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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich
Autoren: Natalie Angier
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verknäulten Chromosomengewirrs, das sich im Kern so ziemlich aller menschlichen Krebszellen befindet, gibt es eine Handvoll molekularer Abweichungen, die allem Anschein nach nicht zufälliges Nebenprodukt der malignen Transformation sind. Vielmehr sind es jene fundamentalen Defekte, die das Tumorwachstum überhaupt erst ausgelöst haben. Zu den gefährlichsten und verbreitetsten Mutationen, die man bislang gefunden hat, gehören solche, die ein Gen namens myc lahm legen. In Tumoren von Brust, Gehirn und Blase, in bösartigen Veränderungen des Blutes, der Lunge und des Darms und allen möglichen anderen Körperteilen ist das myc-Gen in miserabelstem Zustand. Manchmal wurde es in Stücke zerrissen und wild durcheinander wieder zusammengefügt, manchmal wieder und wieder verdoppelt, in seinem genetischen Überschuss zu zahllosen wirren Kringeln -  kleinen myc-Geschwüren - in der Zelle angehäuft. Das Gen ist in Tumorgewebe derart häufig mutiert und trägt dabei gleichzeitig in seinem normalen Gewand so viele Merkmale einer entscheidend wichtigen Persönlichkeit für Leben und Wohlergehen sämtlicher Körperzellen, dass manche es McGene genannt haben: Wo immer Sie hinschauen, es ist bereits da, das myc-Gen.
    Nach beinahe zwei Jahrzehnten der Wechselbäder, in denen man zeitweise mit dem Gen herumspielte, um es gleich darauf als zu schwer zu entschlüsseln zu den Akten zu legen, haben die Wissenschaftler Entdeckungen gemacht, die dieses so extrem wichtige Molekül nun in das Rampenlicht rücken. Viele der Befunde vermitteln grundlegende Erkenntnisse über so wichtige Fragen wie die, wann eine Zelle weiß, wann es an der Zeit ist, sich zu teilen, zu reifen oder bei passender Gelegenheit auch zum Wohl des Körpers Selbstmord zu begehen. Die Erkenntnisse sind von Bedeutung für die Behandlung von Krebs, vor allem als prognostisches Hilfsmittel zur frühzeitigen Unterscheidung zwischen Mammakarzinomen, die durch einen einfachen chirurgischen Eingriff zu beheben sind, und äußerst aggressiven Krebsarten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder auftreten und mit der schärfsten verfügbaren Chemotherapie behandelt werden sollten. Untersuchungen aus den Niederlanden zeigen, dass Frauen, bei denen der Anteil an myc-Genen im Tumor aufgrund einer Mutationsform, die man als Gen-Amplifikation bezeichnet, ungewöhnlich hoch ist, mit weit größerer Wahrscheinlichkeit ein Wiederauftreten ihrer Krankheit zu befürchten haben als Frauen, bei denen keine myc-Redundanzen in den Tumoren festzustellen sind.
    Experimente im Reagenzglas und an Mäusen lassen ebenfalls darauf schließen, dass der myc-Defekt sich unter all den genetischen Fehlern einer durchschnittlichen Tumorzelle durch eine derart auffallende Gemeinheit auszeichnet, dass allein seine Beseitigung ausreichen würde, einen beträchtlichen Teil der Tumoren zu heilen oder doch zumindest im Zaum zu halten. Mit der Hilfe von Medikamenten, die seit den sechziger Jahren verfügbar sind, haben die Wissenschaftler es fertig gebracht, myc-Defekte in kultivierten Tumorzellen zu korrigieren. Diese Präparate bewirken, dass die Zelle ihre überschüssigen Genkopien rauswirft, sie rundweg vor die Tür des Zellkerns setzt, auf dass sie im Zytoplasma ohne viel Federlesens abgebaut werden können. Sobald diese überschüssigen Genkopien beseitigt sind, beruhigen sich die Zellen wieder und kehren in einen ungefährlichen Zustand zurück. Eines dieser Präparate wird derzeit bei Frauen mit fortgeschrittenem Eierstockkrebs, bei denen sich im Tumor Hinweise auf eine Gen-Amplifikation finden, auf seine Eignung getestet.
    Wie so häufig, ist auch hier unser grundsätzliches Verständnis des Hauptkrebsgens jeglicher klinischen Umsetzung oder Anwendung weit voraus. Wir haben inzwischen ziemlich genau begriffen, was das von myc kodierte Protein im Normalfall in der Zelle zu tun hat und warum die Störung dieser häuslichen Aufgaben so katastrophale Folgen zeitigt. Das myc-Protein ist eine Art Kippschalter an der Schnittstelle zweier Möglichkeiten, zwischen denen eine aktive Zelle wählen muss: Entweder sie teilt sich mit sportlichem Elan, oder sie wird sesshaft und entwickelt sich zu einem reifen Angehörigen von Lunge, Darm, Brust oder einem anderen Organ. Das myc-Protein ist offenbar notwendig, damit eine Zelle anfangen beziehungsweise fortfahren kann, sich zu teilen, und es muss zuerst völlig zum Schweigen gebracht worden sein, bevor die Zelle zu ihrem Endstadium reifen kann. Doch dieser
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