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Schneemond (German Edition)

Schneemond (German Edition)

Titel: Schneemond (German Edition)
Autoren: Klaus Kohlpaintner
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ergoss sich in den Fahrgastraum und mit ihm auch das weidwunde Tier, welches noch im Todeskampf verzweifelt um sich schlug.
    Jetzt schien plötzlich alles gleichzeitig zu geschehen. Er riss das Lenkrad herum, in dem Versuch das Reh abzuschütteln und spürte fast augenblicklich, wie er die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und die Welt sich zu neigen begann. Noch während des Überschlages hörte er die Schreie der Frauen, wie durch Watte, bis ihn ein Huf des sterbenden Tieres mit unglaublicher Wucht seitlich am Kopf traf und mit dem Tritt seine Welt in Dunkelheit und Stille versank.
    Oh Gott
, waren seine letzten Gedanken,
nicht Sara - nicht Eva - nicht so...
    »Nein«, schrie er unter Tränen auf, »Nein..., nein...., nein.......«
    Mit einem Ruck sprang Lukas von seinem Bett auf und versuchte verzweifelt die Erinnerungen abzuschütteln und sich aus den Klauen seiner Selbstvorwürfe zu befreien.
    »Nein...., nicht mehr....., nein..., nein....«
    Er wurde langsam ruhiger und die Tränen versiegten, obwohl ihn tiefe Trauer erfüllte. Er lag zusammengekrümmt, wie ein kleines Kind auf dem Bett und schloss, immer noch schluchzend, erneut die Augen, als könnte er dadurch die Bilder aussperren, die auf ihn einstürmten.
    Doch das genaue Gegenteil war der Fall.
    Sie hatten ihm gesagt, dass ihn keine Schuld träfe an ihrem Tod und sie hatten es immer wieder und wieder beteuert – geglaubt hatte er es jedoch nie. Fünf Jahre sollten doch verdammt noch mal reichen, um wenigstens die schlimmsten Wunden verheilen zu lassen. Das traf jedoch höchstens auf seine physischen Verletzungen zu, von denen wirklich nur etliche Narben und ein leichtes Hinken des linken Beines zurückgeblieben waren. Aber die Seele, die Seele vergisst nie – und sich selbst kann sie manchmal nur sehr schwer verzeihen.
    Als dann die Träume und die Schmerzen kamen, hatte er dies als gerechte Strafe für seine Überheblichkeit und seinen Leichtsinn hingenommen. Erhatte regelrecht gebadet in Verzweiflung und Selbstmitleid und immer gehofft, auf den Tag der Absolution, auf den Tag an dem er genug gelitten hätte. Doch er hatte erfahren müssen, dass Trostlosigkeit ein sehr fester und beständiger Teil des Lebens werden kann und so hatte er die für ihn damals einzig mögliche und richtige Entscheidung getroffen und sich mit diesem blanken, scharfen Stahl, der ihm Ruhe und Frieden verheißen hatte, im Bad eingeschlossen.
    Als er schließlich die Augen wieder geöffnet hatte und in das kalte, helle Licht des Behandlungsraumes und in die Augen der Ärzte und Schwestern blickte, wurde ihm klar, dass es auf diesem Weg keinen Frieden für ihn gab. Und so sah er endlich ein, dass er Hilfe brauchte und dass er diese Hilfe auch annehmen musste.
    In langen, ermüdenden Therapiesitzungen hatte er sich dann eingestanden, dass er in seiner gewohnten Umgebung nicht zu sich zurückfinden würde und so hatte er sein Haus verkauft – seinen Job war er ohnehin schon lange los – hatte seine Koffer gepackt und war schließlich wieder hier in München gestrandet, der Stadt seiner Studentenzeit. Die Gespräche hier mit Dr. Heimann hatten ihn letztlich wieder auf eine halbwegs ruhige Bahn gesetzt. Noch mehr als die Gespräche jedoch waren es die Tabletten, die ihm der Doktor regelmäßig verschrieb, welche ihm die Angst vor den Schmerzen nahmen und ihn dazu bewogen, am Leben weiter festzuhalten – und die er mittlerweile in Mengen zu sich nahm, von denen er, auch ohne den Beipackzettel zu lesen, wusste, dass sie seiner körperlichen Unversehrtheit nicht auf Dauer zuträglich sein konnten.
    Er ging zurück ins Bad und fing an sich zu waschen. Er ahnte, auch ohne auf die Uhr zu sehen, dass es sicher noch nicht sehr spät war – ein kleiner Beitrag seiner regelmäßigen Schmerzen zu seiner Tagesplanung, da sie ihn meistens am frühen Morgen heimsuchten. Er wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Schließlich steckte er den Kopf ganz unter den Wasserhahn und ließ sich das kalte Wasser über seine kurzen braunen Haare laufen, bis es wehtat. Dies war jedoch eine andere Art von Schmerz. Nicht dieses quälend bohrende Gefühl, das ihn innerlich verzehrte, sondern ein heftiges Prickeln, das ihn endgültig ins Leben zurückschubste. Nachdem er sich die Zähne geputzt und sich rasiert hatte, sah er in den Spiegel und blickte sich minutenlang an.
    Er war jetzt Mitte vierzig, und eher hager. Sein Gesicht, erkannte er selbst, wirkte ausgezehrt. Früher, in einem anderen Leben,
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