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Schneekuesse

Schneekuesse

Titel: Schneekuesse
Autoren: Gaby Hoffmann
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versammelten und gemeinsam breite Blätterdächer bildeten, unter denen Mensch und Tier bei Unwetter Schutz finden konnten.
    Jill hatte keinen Blick für die imposanten, dicht belaubten Bäume, die zarte Lachsfärbung eben erblühter Rosen, an deren Rändern noch leichte Tauperlen glitzerten, oder die zahlreichen Gänseblümchen, die wie eine Clique kichernder Teenager ihre Köpfe auf den ausgedehnten Rasenflächen zusammensteckten.
    Laue Luft, Vogelgezwitscher, händchenhaltende Pärchen, Jogger, Mütter mit Kinderwagen, Geschäftsleute im Nadelstreifenanzug – eine dichte Nebelwand schottete Jill förmlich gegen ihre Außenwelt ab. Noch dazu gesellte sich dieser beißende Hunger, der sich in sie hineinfraß und heftig an ihren letzten Kräften zehrte.
    Mit gesenktem Kopf schlurfte sie an einem Abfallbehälter vorbei, in dem sie eine halbe Pizza aus einer aufgerissenen Pappschachtel hervorquellen sah. Ihr Verstand war ausgeschaltet, ab jetzt reagierte ihr primitiver Instinkt. Und der gierte nach der Pizza. Sie wirkte appetitlich, lag wahrscheinlich noch nicht lange genug im Müll, als dass sich die im Park herumstreunenden Hunde oder andere Tiere darüber hergemacht hatten. Mit Schinken und Tomaten belegt, dazwischen goldgelb zerlaufener Käse. Zitternd streckte Jill ihre Hand in den Abfallkorb.
    Aber ehe sie die Pizza greifen konnte, bekam sie einen Klaps. Wulstige, schwarze Finger legten sich besitzergreifend auf ihren Handrücken.
    Entsetzt starrte Jill in das teigige Gesicht einer farbigen Frau, die sie breit angrinste.
    „Das ist mein Revier! Tussis wie du haben hier nichts verloren!“ Die Frau angelte die Pizza aus der Pappe und ließ ein Riesenstück zwischen ihren großen weißen Zähnen verschwinden.
    Jill wankte weiter. Ihre Reisetasche vergaß sie neben dem Abfallkorb. Vor ihrem inneren Auge sah sie nur den goldgelb zerlaufenen Käse der Pizza, stellte sich vor, wie sie sich die langen Ziehfäden um ihre Zunge winden würde. Sie konnte nicht kämpfen. Jeder andere Mensch auf dieser Welt war stärker als sie, Jill.
    „He, du dumme Gans, warum sagst du nicht, dass du Hunger hast?“ Die Dicke holte sie schnaufend und pizzaschmatzend mit Jills Reisetasche unterm Arm ein. Sie drückte die willenlose Jill auf eine Parkbank und gab ihr den Rest Pizza. „Na, du sollst das essen und nicht deine Haare damit einseifen!“, murrte sie ungeduldig, als Jill die Pizza zwischen ihren Fingern hin und her drehte, sodass der Käse bereits heruntertropfte.
    Stöhnend ließ sich die Dicke neben Jill nieder, weswegen die Bank kurz auf Jills Seite in die Luft hüpfte. Sie wuchtete ihre breiten Beine, die in knallorangefarbenen Baseballstiefeln steckten, auf einen überdimensionalen, abgewetzten Rucksack, in dem sich offensichtlich ihr gesamtes Hab und Gut verbarg. Alles an der Frau wirkte schwabbelig. Eine giftgrüne T-Shirt/Dreiviertelhosen-Kombination verlieh ihr das Aussehen eines wandelnden Drei-Mann-Zeltes. Topfartig geschnittene kurze, schwarze Borsten umstanden ihr glattes, teigiges Gesicht. Obwohl sonst nicht gerade mit Schönheit gesegnet, besaß sie überraschend hübsche Augen. Ein klares Bernsteinbraun mit leicht gelb gesprenkelten Pünktchen drin, das unwillkürlich Wärme ausstrahlte.
    „Hier, trink!“, die Dicke zog einen Flachmann aus ihrer Hosentasche und hielt ihn Jill hin, die inzwischen hastig die Pizza verschlungen hatte.
    Jill nahm die Flasche, setzte sie, ohne nachzudenken, an die Lippen und trank sie in einem Zug aus. Ein warmes Kribbeln durchrieselte ihren Körper. Dann kam der Nachbrand, der ihr Tränen in die Augen trieb. Sie schluckte, ihre ganze aussichtslose Situation rückte, nachdem sie den ersten Hunger gestillt hatte, wieder in ihr Bewusstsein.
    „Was ist?“, die Dicke stieß sie unsanft in die Rippen.
    „Ich habe nicht mal Geld, um Schlaftabletten zu kaufen.“
    Die Dicke wühlte in ihrem Rucksack und beförderte eine zerknautschte Packung Taschentücher ans Tageslicht, die sie Jill mit ihren baumstammdicken Armen reichte. „Hast du Schlafstörungen?“
    „Bei mir klappt nichts! Kein Dach überm Kopf, kein Job, kein Mann!“ Vor lauter Selbstmitleid brach ihr die Stimme weg; die Augen feuchteten sich wieder.
    Nachdenklich wiegte die Dicke stumm das schwere Haupt hin und her. Früher wäre Jill mit Kolleginnen an der Frau vorbeigeschlendert, und sie hätten über sie gelästert, sie als „Negerkuss“ oder Ähnliches tituliert.  Froh, wehrlose Opfer für ihre hässlichen Zungen
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