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Schluss mit dem ewigen Aufschieben

Schluss mit dem ewigen Aufschieben

Titel: Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Autoren: Hans-Werner Rückert
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202–203)
     
    Proust schildert einige wesentliche Bestandteile des hartnäckigen Aufschiebens:
träumerische Selbstüberschätzung statt eines Beginns im Hier und Jetzt,
Beschönigungen statt bewusster Wahrnehmung der Probleme,
Kampf gegen innere Widerstände, statt sich ihnen zu stellen – wir erfahren nichts darüber, was der Erzähler fürchtet,
das Abgleiten in Selbstaufgabe, Resignation und Schlendrian,
das Gefühl der Demütigung bei der Konfrontation mit dem eigenen Verhalten,
|33| Trotz und Wut als Reaktion auf das Gefühl der Demütigung, womit dann weiteres Aufschieben begründet wird.
    Über das Aufschieben vergeht die Zeit, und der so fest gefasste Entschluss, sich ans Schreiben zu setzen, erweist sich als
     verschiebbar:
     
    »Ich machte es wie bisher, und wie ich es immer schon gemacht hatte seit meinem alten Entschluss, mich ans Schreiben zu begeben,
     der so weit zurücklag, mir aber von gestern zu stammen schien, weil ich ihn immer von einem Tag zum anderen als noch nicht
     gefasst betrachtet hatte. Ich machte es ebenso auch an diesem Tag und ließ wieder, ohne irgendetwas zu tun, seine Regenschauer
     und hellen Durchblicke zwischen Wolken vorüberziehen, während ich den festen Vorsatz fasste, mit der Arbeit am nächsten Tag
     zu beginnen.« (Proust, IX, S. 109)
     
    Das Ergebnis ist ein Leben im Wartestand. Der Erzähler löst sich nicht von seinem Vorhaben, aber er verwirklicht es auch nicht.
     Alle Wünsche, die er mit der Realisierung seines literarischen Projekts verknüpft hatte, bleiben unerfüllt. Die Absicht, etwas
     Neues hervorzubringen, schöpferisch tätig zu sein, wandelt sich zum Wunsch, sich dieser alten Absicht wenigstens zu erinnern:
     
    »Vielleicht lag es an der Gewohnheit, die ich angenommen hatte, in meinem Innern gewisse Wünsche aufzubewahren, ... diese
     Gewohnheit, sie alle in mir zu bewahren ohne Erfüllung, mit einem Genügen einzig in dem Versprechen, das ich mir selber gab,
     ich wolle nicht vergessen, sie eines Tages dennoch zu befriedigen; diese nun schon so viele Jahre alte Gewohnheit war vielleicht
     an dem ewigen Wiederaufschieben schuld, das Monsieur de Charlus geringschätzig mit dem Namen ›Prokrastination‹ belegte ...«
     (Proust, IX, S. 113)
     
    Das lateinische Wort
crastinus
heißt: morgig;
pro
heißt: vorwärts;
rem in crastinum differe
heißt: eine Sache auf morgen verschieben. Der Franzose, der aufschiebt, frönt der
procrastination
, unter der das französische Wörterbuch die Tendenz versteht, alles auf morgen zu verlegen. Im angloamerikanischen Sprachraum
     heißt der Sachverhalt ebenso. Das amerikanische Wörterbuch versteht unter
procrastination
: »Es aufschieben, etwas zu tun, besonders aus gewohnheitsmäßiger Sorglosigkeit oder Faulheit; etwas unnötigerweise zurückstellen
     oder auf später verschieben.«
    |34| Mit Faulheit hat ernsthaftes Aufschieben allerdings kaum etwas zu tun. Wenn Sie faul sind, schätzen Sie es, sich nicht anstrengen
     zu müssen. Sie haben eine Abneigung gegenüber Aktivität und eine Neigung zu Tatenlosigkeit und Trägheit. Sie werden sich bestimmte
     Ziele – außer dem, Ihre Ruhe haben zu wollen – gar nicht erst stecken. Möglicherweise gefallen Ihnen Ihre Lebenssituation
     und Ihre Faulheit nicht. Aber wenn Sie richtig faul sind, werden Sie nicht ernsthaft an eine Änderung denken, weil sie Aktivität
     erfordert.
    Wenn Sie bequem sind, werden Sie mit dem Erreichten zufrieden sein und nicht danach streben, in Ihrer persönlichen oder beruflichen
     Entwicklung weiterzukommen. Sicher, manchmal werden Sie Tagträumen von mehr Erfolg, mehr Geld oder einem interessanteren Leben
     nachhängen, aber Sie werden sich nicht ernsthaft anstrengen, um diese Ziele zu erreichen.
    Anders verhält es sich beim Aufschieben. Es ist ein höchst aktives Vermeiden, bei dem Sie sich oft ausdauernd und angestrengt
     mit etwas anderem beschäftigen. Wenn Sie damit erfolgreich waren, sind Sie aber auch nicht zufrieden, sondern ärgern sich
     darüber, das aufgeschoben zu haben, was eigentlich wichtig war. Sie spüren, wie viel Energie in Ihnen steckt, die Sie leider
     mit Aktionismus vergeuden, der Sie Ihren Zielen nicht näher bringt.
    Marcel Proust ist übrigens ein ermutigendes Beispiel dafür, dass es möglich ist, die
procrastination
zu überwinden: Angekündigt hatte er 1909 seinem Verleger ein Buch, von dem er behauptet hatte, es sei nahezu fertig und habe
     300 Seiten. Der erste Band,
In Swanns Welt
, erschien 1913. Die
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