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Schlaf

Titel: Schlaf
Autoren: Haruki Murakami
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ich haben uns längst wieder vertragen. Ich gab meinem Sohn seinen Namen. Und auch mein Mann und ich hatten uns schon kurz darauf wieder ausgesöhnt.
    Doch hörte ich damals auf, ihn im Schlaf zu betrachten.
    Ich stand also da und sah auf sein schlafendes Gesicht. Er schlief fest wie immer. An einer Seite des Futons guckte ein nackter Fuß in einem so seltsamen Winkel heraus, dass man den Eindruck hatte, es sei der Fuß von jemand anderem. Es war ein großer, klobiger Fuß. Der riesige Mund stand halb offen, die untere Lippe hing runter, und ab und zu zuckten die Nasenflügel. Das Muttermal unter seinem Auge sah ungewöhnlich groß und gemein aus. Auch die Art der geschlossenen Augen war irgendwie ordinär. Die Augenlider waren schlaff und sahen wie verfärbte Fleischlappen aus. Wie ein Idiot schläft er, dachte ich. Eine Art zu schlafen, jenseits von Gut und Böse. Wie hässlich sein Gesicht beim Schlafen ist. Widerlich. Es muss früher anders gewesen sein. Als wir heirateten, war sein Gesicht noch lebendig und fest. Auch im tiefsten Schlaf war es unmöglich so schlaff gewesen.
    Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was für ein Gesicht er früher beim Schlafen gehabt hatte. Aber sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich nicht mehr erinnern. Ich wusste nur, dass es nicht so schrecklich gewesen sein konnte. Oder war das nur eine Illusion? Vielleicht hatte er damals das gleiche Gesicht beim Schlafen wie heute. Vielleicht hatte ich nur irgendwelche Gefühle hineinprojiziert. Das würde meine Mutter wahrscheinlich behaupten. Diese Art Logik ist ihre Stärke. »Weißt du, dieses Verliebtheitsgedusel nach der Heirat dauert maximal zwei bis drei Jahre«, war einer ihrer Sprüche. »Natürlich hatte er ein goldiges Gesicht im Schlaf, du warst ja auch schrecklich in ihn verliebt«, würde sie sagen.
    Aber ich wusste, das war es nicht. Mein Mann war ohne Zweifel hässlich geworden. Sein Gesicht hatte jede Spannung verloren. Vielleicht war es das Alter. Mein Mann ist alt und erschöpft. Er ist ausgelaugt. Er würde in den nächsten Jahren zweifellos noch hässlicher werden. Und ich würde es ertragen müssen.
    Ich seufzte. Es war ein lauter Seufzer, aber mein Mann rührte sich nicht. Kein Seufzer könnte ihn wecken.
    Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Ich trank noch einen Cognac und las in meinem Buch. Aber irgendwas beunruhigte mich. Ich legte das Buch beiseite und ging ins Kinderzimmer. Ich öffnete die Tür und betrachtete im Licht der Flurlampe das Gesicht meines Sohnes. Er schlief genauso fest wie mein Mann. Wie immer. Ich sah eine Weile auf das schlafende Gesicht meines Sohnes. Er hatte ein ganz glattes Gesicht, völlig anders als das meines Mannes. Natürlich, er war ja noch ein Kind. Die Haut schimmerte, und nichts Gemeines war darin.

    Doch irgendetwas störte mich. Zum ersten Mal überkam mich dieses Gefühl meinem Sohn gegenüber. Was an ihm könnte mich stören? Ich stand da, mit verschränkten Armen. Natürlich liebe ich meinen Sohn. Ich liebe ihn sogar sehr. Doch ohne Zweifel gab es da jetzt etwas, was mir auf die Nerven ging.
    Ich schüttelte den Kopf.
    Ich schloss einen Moment lang die Augen. Dann öffnete ich sie wieder und betrachtete erneut das Gesicht meines schlafenden Kindes. Auf einmal wusste ich, was es war. Das schlafende Gesicht meines Sohnes sah exakt so aus wie das meines Mannes. Und wie das meiner Schwiegermutter. Diese Veranlagung zu Starrsinn und Selbstzufriedenheit – diese Art von Hochmut in der Familie meines Mannes, die ich so hasste. Keine Frage, mein Mann ist gut zu mir. Er ist zärtlich und sehr fürsorglich. Er macht nicht mit anderen Frauen rum, und er arbeitet viel. Er ist ernst und jedem gegenüber freundlich. Alle meine Freunde sind sich darin einig, dass jemand wie er schwer zu finden ist. Es gibt nichts, was ich ihm vorwerfen könnte. Doch gerade das ärgert mich manchmal. In seiner Tadellosigkeit liegt etwas Rigides, das keine Fantasie zulässt. Das macht mich wütend.
    Und mit demselben Gesichtsausdruck schlief jetzt mein Sohn.
    Ich schüttelte erneut den Kopf. Er ist also letztlich ein Fremder, dachte ich. Wenn er groß ist, wird er meine Gefühle gewiss nie verstehen können. So wie mein Mann heute kaum in der Lage ist, sie zu verstehen.
    Ohne Zweifel liebe ich meinen Sohn. Aber ich ahnte, dass ich ihn in Zukunft nicht mehr so aufrichtig würde lieben können. Ein nicht gerade mütterlicher Gedanke. Andere Mütter denken so etwas bestimmt nie. Aber ich weiß: Eines Tages
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