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Schlaf

Titel: Schlaf
Autoren: Haruki Murakami
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betrachten. Die Frau, die niemals schläft. Die Erweiterung des Bewusstseins.
    Ich muss lächeln.
    Transzendentales Evolutionsmodell.
    Während ich Musik aus dem Radio höre, fahre ich zum Hafen. Eigentlich hatte ich Lust auf klassische Musik, fand aber keinen Sender, der nachts Klassik spielte. Auf allen Sendern läuft dieselbe öde japanische Rockmusik. Klebrig süße Liebesschnulzen. Wohl oder übel höre ich ihnen zu. Sie versetzen mich in eine Stimmung, weit, weit weg von hier. Weit entfernt von Haydn und Mozart.
    Auf dem großen, durch weiße Linien abgeteilten Parkplatz am Park halte ich an und stelle den Motor ab. Es ist der hellste Platz, unter einer Laterne, rundherum ist alles leer. Nur ein anderes Auto steht noch da, ein weißes zweitüriges Coupé, wie es junge Leute gerne fahren. Es ist ein altes Modell. Vielleicht ein Liebespaar. Wahrscheinlich haben sie kein Geld fürs Hotel und lieben sich im Auto. Um Ärger zu vermeiden, ziehe ich meine Mütze tief ins Gesicht. So sehe ich nicht wie eine Frau aus. Ich vergewissere mich noch mal, dass alle Türen abgeschlossen sind.

    Geistesabwesend betrachte ich die Landschaft um mich herum, als mir plötzlich eine Autofahrt mit meinem Freund im ersten Jahr auf der Universität einfällt. Wir hatten uns ziemlich heftig gestreichelt. Er könne es nicht mehr zurückhalten, sagte er und bat mich, ihn reinstecken zu dürfen. Ich hatte es ihm nicht erlaubt. Ich lege beide Hände aufs Lenkrad, lausche der Musik und versuche, mir die Szene von damals ins Gedächtnis zu rufen. Aber ich kann mich nicht mehr richtig an sein Gesicht erinnern. Alles scheint schon so furchtbar lange her.
    Als ob sich die Erinnerungen aus der Zeit, bevor ich nicht mehr schlafen konnte, mit immer größerer Geschwindigkeit entfernten. Ein seltsames Gefühl, als sei das Ich, das jeden Abend schlafen ging, nicht mein wahres Ich, und als seien meine Erinnerungen aus der damaligen Zeit nicht meine wahren Erinnerungen. So sehr verändert man sich also, dachte ich. Doch niemandem sind diese Veränderungen bewusst. Niemand bemerkt sie. Nur ich weiß davon. Auch wenn ich es ihnen erklärte, sie verstünden es nicht. Sie würden es nicht glauben wollen. Und selbst wenn sie es glaubten, verstünden sie doch niemals genau, was ich fühle. Ich wäre bloß eine Bedrohung für ihre induktive Weltsicht.
    Aber ich verändere mich wirklich.
    Ich weiß nicht, wie lange ich unbeweglich dasaß. Ich hatte beide Hände auf dem Steuer, die Augen fest geschlossen. Und blickte in die schlaflose Dunkelheit.
    Die Anwesenheit von Menschen lässt mich plötzlich wieder zu mir kommen. Da ist jemand. Ich öffne die Augen und sehe mich um. Es ist jemand draußen am Auto. Er versucht, die Tür zu öffnen. Aber die Türen sind natürlich verschlossen. An beiden Seiten des Autos sehe ich einen schwarzen Schatten. Rechts und links, an jeder Tür einer. Die Gesichter kann ich nicht erkennen. Auch die Kleidung erkenne ich nicht. Nur zwei schwarze Schatten stehen da.
    Eingeklemmt zwischen diesen beiden Schatten fühlt sich mein City ganz klein an, wie eine kleine Kuchenschachtel. Ich merke, wie der Wagen nach rechts und links geschaukelt wird. Eine Faust schlägt an die rechte Fensterscheibe. Ich weiß, dass es kein Polizist ist. Ein Polizist würde nicht so gegen die Scheibe schlagen. Er würde auch mein Auto nicht hin- und herschaukeln. Ich halte den Atem an. Was soll ich machen? In meinem Kopf herrscht ein totales Chaos. Ich spüre den Schweiß unter meinen Armen. Ich muss weg, denke ich. Der Schlüssel. Ich muss den Schlüssel umdrehen. Ich strecke meinen Arm aus, greife den Schlüssel und drehe ihn nach rechts. Ich höre den Anlasser.
    Doch der Motor springt nicht an.
    Meine Hände zittern. Ich schließe die Augen und drehe noch einmal langsam den Schlüssel um. Es geht nicht. Nur ein Geräusch, als würden Finger an einer riesigen Mauer kratzen. Der Anlasser dreht und dreht sich. Die Männer, diese Schatten, schaukeln weiter mein Auto. Das Schaukeln wird immer stärker. Vielleicht wollen sie mein Auto umkippen.
    Irgendwas stimmt nicht. Nimm dich zusammen und denk nach, dann wird alles gut. Denk nach. Nimm dich zusammen. Ganz ruhig. Denk nach. Irgendwas stimmt nicht.
    Irgendwas stimmt nicht.
    Aber was? In meinem Kopf staut sich dichte Dunkelheit. Sie bringt mich nirgendwo mehr hin. Meine Hände zittern immer noch. Ich ziehe den Schlüssel raus und versuche, ihn wieder reinzustecken. Doch meine Finger zittern, und ich kriege ihn
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