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Schlaf

Titel: Schlaf
Autoren: Haruki Murakami
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auszuziehen ins Bett und schlief sofort ein. Ich schlief siebenundzwanzig Stunden wie ein Stein. Meine Mutter machte sich Sorgen und schüttelte mich mehrmals. Sie tätschelte meine Wangen. Aber ich wachte nicht auf. Siebenundzwanzig Stunden lang schlief ich unerschütterlich, ohne die Augen aufzumachen. Als ich aufwachte, war ich wieder ich selbst. Vielleicht.
    Ich hatte keine Ahnung, warum ich unter Schlaflosigkeit gelitten hatte und warum ich plötzlich wieder davon geheilt war. Es war wie eine tiefschwarze Wolke, die der Wind von weit her herantreibt. In dieser Wolke sitzt völlig verschrumpelt ein mir unbekanntes böses Omen. Niemand weiß, woher es kommt und wohin es geht. Auf jeden Fall kam es, schwebte über meinem Kopf und verschwand wieder.

    Aber mein jetziges Nicht-schlafen-Können ist völlig anders. Absolut anders. Ich kann einfach nicht schlafen. Noch nicht einmal ein Nickerchen. Doch abgesehen von der Tatsache, dass ich nicht schlafen kann, fühle ich mich ganz normal. Ich bin kein bisschen müde, und mein Bewusstsein ist vollkommen klar. Fast noch klarer als sonst. Auch körperlich gibt es keine Besonderheiten. Ich habe Appetit, spüre keine Müdigkeit. Es gibt wirklich keine Probleme. Nur dass ich nicht schlafen kann.
    Weder meinem Mann noch meinem Sohn fällt überhaupt auf, dass ich nie schlafe. Und ich sage auch nichts. Ich würde doch nur zu hören bekommen, ich solle zum Arzt gehen. Und das weiß ich: Es wäre sinnlos, zum Arzt zu gehen. Deswegen sage ich lieber nichts. Es ist genau wie beim letzten Mal, als ich unter Schlaflosigkeit litt. Ich weiß nur eins: Es ist etwas, was ich alleine schaffen muss.
    Deswegen merken sie auch nichts. Oberflächlich verläuft mein Leben wie immer. Sehr ruhig, sehr regelmäßig. Nachdem ich am Morgen meinen Mann und meinen Sohn hinausbegleitet habe, fahre ich wie immer mit dem Auto zum Einkaufen. Mein Mann ist Zahnarzt, er hat eine Praxis, ungefähr zehn Minuten mit dem Auto von unserer Wohnung entfernt. Er betreibt sie zusammen mit einem Freund, den er vom Studium her kennt. Sie teilen sich den Techniker und die Sprechstundenhilfe. Hat einer der beiden einmal keinen Termin mehr frei, kann der andere den Patienten übernehmen. Da mein Mann und sein Freund beide sehr tüchtig sind, läuft die Praxis, die sie erst vor fünf Jahren fast ganz ohne Beziehungen aufgemacht haben, ziemlich gut. Mein Mann hat eher zu viel zu tun.
    »Ich würde lieber weniger arbeiten. Aber ich kann mich nicht beklagen«, sagt er.
    »Ja«, antworte ich. Beklagen können wir uns nicht, das ist wahr. Um die Praxis zu eröffnen, hatten wir bei der Bank einen Kredit aufnehmen müssen, der unsere anfänglichen Vorstellungen weit übertraf. Bei einer Zahnarztpraxis sind kostspielige Investitionen für die Ausstattung nötig. Außerdem ist die Konkurrenz hart. Wenn man eine Praxis aufmacht, stehen die Patienten ja nicht am nächsten Tag Schlange.
    Viele Zahnarztpraxen gehen sogar pleite, weil zu wenig Patienten kommen.
    Als wir die Praxis aufmachten, waren wir noch jung, ohne Geld und mit einem neugeborenen Baby. Niemand wusste, ob wir in dieser harten Welt überleben könnten. Aber irgendwie haben wir es fünf Jahre lang geschafft. Wir können uns nicht beklagen. Vom Kredit sind noch ungefähr zwei Drittel offen.
    »Vielleicht drängeln sich die Patienten ja so, weil du so gut aussiehst«, sage ich. Es ist ein alter Scherz zwischen uns. Ich sage es, weil er nicht im Geringsten gut aussieht. Mein Mann hat eher ein etwas sonderbares Gesicht. Ich denke das auch jetzt noch ab und zu. Warum habe ich bloß einen Mann mit einem so sonderbaren Gesicht geheiratet? Meine Freunde davor haben besser ausgesehen.
    Ich kann nicht wirklich erklären, was an seinem Gesicht sonderbar ist. Mein Mann sieht zwar nicht gut aus, aber er ist auch nicht hässlich. Er hat nicht das, was man ein ausdrucksvolles Gesicht nennen würde. Ehrlich gesagt fällt mir nichts anderes als »sonderbar« ein. Vielleicht passt »ohne erkennbare Züge« noch besser. Aber das allein ist es nicht. Es muss etwas Bestimmtes geben, wodurch sein Gesicht keine erkennbaren Züge hat. Wenn ich es benennen könnte, würde diese »Sonderbarkeit« vielleicht klar werden. Aber das ist mir bisher noch nicht gelungen. Einmal habe ich aus irgendeinem Grund versucht, ihn zu porträtieren. Aber es war unmöglich. Als ich mit dem Bleistift vor dem Blatt Papier saß, konnte ich mich nicht im Mindesten an sein Gesicht erinnern. Ich war etwas schockiert.
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