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Schimmer (German Edition)

Schimmer (German Edition)

Titel: Schimmer (German Edition)
Autoren: Ingrid Law
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Fingerknöcheln sacht über Poppas Kinn und fühlte seine Bartstoppeln, dann ließ ich die Hand zu seinem Arm sinken. Mit zitternder Hand fuhr ich leicht über Poppas Arm und hielt mit einem Finger an der Innenseite seines Handgelenks inne, als wollte ich seinen Puls fühlen. Da musste ich unweigerlich an den Obdachlosen an dem Müllcontainer hinter der Fernfahrer-Raststätte von Emerald denken. Der Mann hatte auch geschlafen. Hatte geschlafen und war ganz allein gewesen. Ohne jede Hoffnung. Er hatte niemanden gehabt, der ihm Lieder vorspielte, der zuhörte, sich um ihn kümmerte. Doch Poppa hatte uns alle, und wir würden ihn nie aufgeben.  
    »Mibs«, sagte Fish, so leise, dass ich es kaum hörte. Ich schaute ihn an, und er tippte sich vielsagend auf den Unterarm, dann machte er eine Kopfbewegung zu Poppa. »Die Meerjungfrau, Mibs«, flüsterte er. »Was ist mit der Meerjungfrau?« Da schaute auch Samson mich an, die dunklen Augen groß und rund.  
    Ich konnte es gar nicht fassen, dass ich das vergessen hatte. Wie konnte ich Poppas verblichenes Tattoo aus der Navy-Zeit vergessen? Wie konnte ich die Meerjungfrau vergessen?  
    Ganz sanft, um nicht gegen irgendwelche wichtigen Schläuche oder Drähte zu stoßen, drehte ich Poppas Arm herum. Da war sie, um ihren Anker geschlungen, und blinzelte unter den Haaren auf Poppas Arm hervor. Doch zu meinem Entsetzen sah sogar Poppas Tattoo leblos aus, als wäre die langhaarige Meerjungfrau einem Schiffswrack ausgewichen und an Land gespült worden.  
    Ich lauschte angestrengt auf die Stimme der Meerjungfrau in meinem Kopf. Mit der Fingerspitze zeichnete ich ihren langen grünen Schwanz nach. Ich machte die Augen fest zu und versuchte zu hören, was Poppa vielleicht dachte, was er fühlte, was er träumte, wünschte, wusste. Ich lauschte und lauschte und lauschte.  
    Doch da war nichts. Keine Stimmen in meinem Kopf. Überhaupt kein Poppa. Ich hörte das Klirren von Metall an Glas, als Fish, das Gesicht verkniffen, weil er gegen die Tränen ankämpfte, die Hand ausstreckte, um den Deckel von Oma Dollops Glas ganz zuzudrehen und das endlose Liebeslied zum Schweigen zu bringen; ich war mir nicht sicher, ob er das Glas zuschraubte, damit ich Poppa besser hören konnte, oder ob er es tat, damit uns nicht das Herz brach. Ohne das Lied war der Raum so von Stille erfüllt, dass ich mir kaputt und dunkel vorkam wie Rockets geplatzte Glühbirnen.  
    Da merkte ich, dass Fish und Samson mich immer noch ansahen, sie atmeten kaum. Sie sahen mir beim Lauschen zu. Sie wollten wissen, was ich hörte – wollten wissen, was die Meerjungfrau über Poppa zu sagen hatte und wann er aufwachen wollte. Momma und Rocket wussten noch nichts über mich und die Tinte auf der Haut und die Gefühle und Gedanken und das Lauschen, und vielleicht war es nicht der beste Moment, ihnen davon zu erzählen, denn es konnte nicht gut sein, dass ich nichts hörte – überhaupt nicht gut. Fish und Samson wussten Bescheid. Sie wussten Bescheid und sie sahen mich an, um möglichst viel zu erfahren.  
    Langsam schüttelte ich den Kopf.  
    Ohne eine Bö oder eine Brise machte Fish kehrt und ging aus dem Zimmer.  
    »Fish?« Besorgt folgte Momma ihm in den Flur, sie nahm Gypsy mit, als sie ging, um nach Fish zu sehen. Rocket versuchte Samson zu trösten, aber Samson stand wie versteinert an Poppas Bett.  
    Es war unvorstellbar, dass ein ganzes Zimmer voller beaumontschem Spezialwissen unserem Poppa nicht helfen konnte. Ich konnte nur sinnlos lauschen. Und das tat ich. Ich lauschte, bis mir die Ohren klingelten von dem leisen Piepen und Rauschen und Summen und Brummen der Apparate um Poppa herum. Ich lauschte, bis mir der Kopf wehtat und meine Augen brannten von all den Tränen, die ich, leer wie ich war, nicht weinen konnte.  
    Rocket beobachtete mich und Samson genau, er passte für Momma auf uns auf, während sie mit Fish und Gypsy auf dem Flur war. Opa Bomba sank am Fußende von Poppas Bett auf einen Stuhl nieder, er sah verloren aus und älter als alt.  
    Dann beugte ich mich unendlich vorsichtig über Poppas Bett und flüsterte ihm ins Ohr: »Hör mir mal zu, Poppa. Jetzt musst du meine Stimme in deinem Kopf hören. Du denkst vielleicht, du hättest keinen Schimmer, Poppa, aber das stimmt nicht. Du hast einen Schimmer. Wirklich.« Ich dachte wieder an alles, was ich über Poppa wusste. Ich dachte an die Geschichte, wie er Momma kennengelernt und um sie geworben hatte, wie er nicht aufgegeben
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