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Schimmer (German Edition)

Schimmer (German Edition)

Titel: Schimmer (German Edition)
Autoren: Ingrid Law
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vollkommen. Alles, was sie macht, ist vollkommen. Selbst wenn sie etwas vermasselt, vermasselt sie es auf vollkommene Weise.  
    Ich überlegte oft, wie es wohl bei mir sein würde. Ich stellte mir vor, wie ich die Kerzen auf der Torte auspustete und mit ihnen alle Kaminfeuer in den vier umliegenden Countys erloschen. Oder wie ich mir einen Wunsch überlegte und die Backen aufblies – und schon schwebte ich als Geburtstagsluftballon an die Zimmerdecke.  
    »Ich kriege einen guten Schimmer«, sagte ich zu meinem Bruder Rocket. »Das weiß ich genau.«  
    »Mädchen kriegen kein scharfes Pfefferminz«, sagte Rocket. Dabei fuhr er sich mit der Hand durch die kurzgeschnittenen, ungekämmten Haare, dass sie knisterten. »Für Mädchen gibt’s die stillen, freundlichen Schimmer – Zimt und Zucker und alles in Butter. Nur Jungs kriegen die welterschütternden Schimmer.«  
    Ich sah meinen Bruder nur böse an und streckte ihm die Zunge raus. Rocket und ich wussten beide, dass in unserem Stammbaum viele Mädchen rumkletterten, die starke, handfeste Schimmer hatten, Großtante Jules zum Beispiel, die mit jedem Niesen zwanzig Minuten in der Zeit zurückgehen konnte, oder Olive, unsere Cousine zweiten Grades, die mit einem einzigen glühend heißen Blick Eis zum Schmelzen brachte.  
    Rocket war siebzehn und hatte lauter Zeug im Kopf, von dem ich noch lange nicht sprechen darf. Aber er war durch und durch elektrisch geladen und bildete sich eine Menge darauf ein. Mal ließ er aus Spaß meine Haare zu Berge stehen, als hätte er einen Luftballon daran gerieben, mal verpasste er Fish vom anderen Ende des Zimmers aus einen gemeinen Stromschlag. Doch Rocket sorgte dafür, dass wir immer Licht hatten, auch wenn der Strom ausfiel, und das wussten alle Familienmitglieder zu schätzen, vor allem die kleineren Beaumonts.  
    Rocket war der Älteste, dann kam Fish und dann ich. Fish und ich waren nur ein Jahr auseinander, wir waren fast gleich groß und sahen uns sehr ähnlich mit unseren Haaren wie Sand und Stroh – Mommas Haare. Aber während ich Poppas haselnussbraune Augen hatte, hatte Fish Mommas meerblaue. Es war, als hätten wir uns jeder ein Stück Momma genommen und ein Stück Poppa und den Rest selbst gemacht.  
    Ich war weder die Jüngste noch die Kleinste in der Familie; Samson der Grübler war dunkle, geheimnisvolle sieben, und Gypsy mit dem Puppengesicht war drei. Gypsy mit ihrem Brabbelsabbel hatte ich den Namen Mibs zu verdanken, denn meinen richtigen Namen, Mississippi, brachte ihre zarte Zuckerzunge nicht zustande. Aber das war eine Erleichterung. Dieser Name hatte mich immer verfolgt wie eine von Fishs schweren Gewitterwolken.  
    An dem Donnerstag vor dem Freitag vor dem Samstag, an dem ich dreizehn wurde, war ich ganz erfüllt von kribbeliger, krabbeliger Geburtstagsspannung. Beim Abendessen saß ich neben Poppas leerem Platz, wo ein Teller für ihn gedeckt war, und bekam kaum einen Bissen hinunter. Mir gegenüber plapperte Gypsy unaufhörlich, zählte die Geschöpfe im Raum, die sie sich ausdachte, und wollte, dass ich ihnen Namen gab.  
    Ich schob das Essen auf meinem Teller herum, achtete nicht auf meine Schwester und stellte mir gerade vor, wie es sein würde, wenn ich erst meinen eigenen Schimmer hätte, als das Telefon klingelte, mitten hinein in den Schmorbraten mit Kartoffelbrei und den höchst ungeliebten grünen Bohnen. Momma stand auf und ging an den Apparat, und diese Chance nutzten wir Kinder und auch Opa Bomba, um die Bohnen unbemerkt unterm Kartoffelbrei verschwinden zu lassen. Und Samson konnte ebenso unbemerkt ein paar Bohnen in die Hosentasche stecken, als Futter für seine tote Schildkröte, obwohl Momma immer sagte, er solle ihr nicht unser gutes Essen geben, denn sie sei tot und das Essen würde bloß vergammeln. Doch Samson war felsenfest überzeugt, dass die Schildkröte nur Winterschlaf hielt, und Momma brachte es nicht übers Herz, sie rauszuwerfen.  
    Wir saßen am Küchentisch und grinsten uns an, weil wir das Bohnenproblem so geschickt gelöst hatten, da ließ Momma das Telefon scheppernd fallen und schluchzte auf – vollkommen niedergeschmettert. Sie sank auf alle viere und sah aus, als würde sie durch die braunen und blauen Linoleumfliesen hindurchstarren, um die brennend heiße Lava im Innern der Erde zu sehen.  
    »Es ist Poppa«, sagte Momma mit erstickter Stimme. Ihr vollkommenes Gesicht war verzerrt.  
    Eine Windbö kam von Fish herüber, unsere Haare
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