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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Autoren: Orlando FIGES
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dem Wagen springen und hoffentlich an einen Baum geschmettert werden, und wenn der Soldat das Feuer eröffnete, umso besser.« Lew bereitete sich auf den Sprung vor, doch dann bemerkte er durch die Bäume hindurch einen Schuppen mit säuberlich aufgestapelten Metallfässern. Sie würden also nicht erschossen werden, sondern hielten nur zum Auftanken an. Wie der Hauptmann angedroht hatte, wurden die vier Männer zum Dulag 127 zurückgebracht. Dort versuchten sie, zusammenzubleiben, um sich gegen Beschuldigungen der anderen sowjetischen Gefangenen zu schützen, die gewusst haben dürften, dass sie von der Spionageschule zurückgekehrt waren.
    Ein paar Wochen später, im Februar1942 , verlegte man Lew und mehrere andere Offiziere in ein Kriegsgefangenenlager unweit von Fürstenberg an der Oder (das heute zu Eisenhüttenstadt gehört), 80 Kilometer östlich von Berlin. Da sie aus dem von Krankheiten verseuchten Dulag 127 gekommen waren, mussten sie eine Quarantäne in einer Holzbaracke durchlaufen, wo in den ersten Tagen sechs Männer an Typhus starben. Davon abgesehen wurden die Offiziere gut behandelt, und die Lagerbedingungen waren erträglich. Lew wurde vom Kommandanten und zwei anderen Offizieren verhört. Sie wollten wissen, warum er so gut Deutsch sprach und ob er Jude sei, wie seine Kameraden angeblich behaupteten. Erst als er das Vaterunser aufsagte, ließen sie sich überzeugen, dass er kein Jude war.
    Im April sandte man Lew mit einer kleineren Gruppe sowjetischer Offiziere in ein Ausbildungslager am Rand von Berlin. Dorthielt man ihnen Vorträge über die nationalsozialistische Ideologie und die für Europa geplante neue deutsche Ordnung. Diese Ideen sollten sie an ihre Mitgefangenen in anderen Lagern weitergeben. Sechs Wochen lang mussten sie sich die Vorträge ihrer Lehrer anhören. Letztere waren überwiegend russische Emigranten der Vorkriegszeit, die ihren Text vom Blatt lasen. Dann, im Mai, verteilte man die sowjetischen Offiziere auf verschiedene Lager. Lew wurde Mitglied einer Arbeitsbrigade, die der Munitionsfabrik Kopp und Haberland in Oschatz zugeteilt war.
    Oschatz war das Zentrum einer riesigen Industriezone aus Kriegsgefangenenlagern (Stammlager oder im militärischen Sprachgebrauch Stalag) zwischen Leipzig und Dresden. Lew musste als Übersetzer für eine militärische Inspektionseinheit arbeiten und wurde im August in eine der Arbeitsbrigaden versetzt, die man der Hugo Schneider AG (HASAG) in Leipzig zugeteilt hatte. Die HASAG war ein mächtiger Komplex von Metallfabriken, die Munition für die deutsche Armee und Luftwaffe herstellten. Im Sommer 1942 umfasste sie mehrere Stalags mit ungefähr 15 000 Gefangenen verschiedener Nationalität (Juden, Polen, Russen, Kroaten, Tschechen, Ungarn, Franzosen) in zwei Sektoren, die als »russisch« und »französisch« bezeichnet wurden. Lew wurde in einer Abstellkammer, die er für sich allein hatte, im französischen Sektor untergebracht und einem Tschechen namens Eduard Hladik, der die Aufgabe hatte, Konflikte unter den Kriegsgefangenen beizulegen, als Dolmetscher zugewiesen. Obwohl Hladiks Mutter Deutsche war, betrachtete er sich selbst als Tschechen. Nach der deutschen Annexion der Tschechoslowakei im Jahr 1938 war er als Wärter in den HASAG-Lagern einberufen worden. Hladik taten die Gefangenen leid, und er hielt es für unsinnig, sie so schlecht zu behandeln, da sie schließlich für einen deutschen Sieg arbeiteten. Wenn Lew mit Hladik durch die Leipziger Straßen ging, musste er als Gefangener im Rinnstein neben dem Bürgersteig laufen, und wenn Passanten ihn beschimpften, verteidigte Hladik ihn gewöhnlich mit den Worten: »Es ist leicht, einen Mann zu verfluchen, der keine Antwort geben kann.«
    Hladik fasste Vertrauen zu Lew. Etwas an dessen Charakter –vielleicht seine Aufrichtigkeit oder auch nur die Tatsache, dass er ihre Sprache beherrschte – weckte das Interesse von Männern in verantwortlichen Positionen. Der Tscheche schloss Freundschaft mit Lew und ließ ihn deutsche Zeitungen lesen, was Kriegsgefangenen verboten war, denn sie enthielten genaue Berichte über die militärische Lage und beschrieben die Slawen – im Gegensatz zu den Propagandabroschüren, die in den Stalags verteilt wurden – als »Untermenschen«. Hladik nahm Lew sogar zum Besuch eines seiner Freunde mit, eines Sozialisten namens Erik Rödel, der ein wenig Russisch sprach und ein Rundfunkgerät besaß, mit dem er sich sowjetische Sendungen anhörte. Den Wärtern
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