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Scherbenhaufen

Scherbenhaufen

Titel: Scherbenhaufen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Martha Rechberger einen Faltprospekt unter der Scheibe durch. »Das Plänchen können Sie mitnehmen«, meint sie und weist mit dem Kinn zur Eingangstreppe.«
    Der Hauptzugang zum Museum liegt nicht, wie man es vielleicht erwarten würde, im Parterre des Donjons. Vom Kassenhäuschen steige ich direkt zum Rittersaal auf den dritten Boden hoch. Dort harrt eine Gruppe wissensdurstiger Touristen der fachkundigen Museumsführung. Just im Augenblick, in dem ich den Saal betrete, eröffnet die Direktionsassistentin ihren Vortrag. »So, jetzt wären wir wohl komplett.«
    Ich durchquere den Raum möglichst diskret, schüttle dazu sicherheitshalber den Kopf und strebe direkt zum Treppenhaus. Ein paar polierte Ritterrüstungen stehen wie verlassenen Brustpanzer einer ausgestorbenen Käferart aufgespießt auf wackligen Ständern. Sonst gibt es im Rittersaal nicht viel mehr zu bestaunen. Schmale Sandsteinstufen winden sich ins Kellergeschoss. Ich stelle mir vor, wie hier Niklaus Weihermann vom Hilfeschrei seiner Freundin überrascht wurde.
    Unten begegnen mir zwei bleiche Chinesen. Sie palavern vor pausbäckigen Tonfiguren, die auf einer bemalten Truhe posieren. Beim Nähertreten erkenne ich in den mondgesichtigen Keramiken unsere Nationalhelden, Wilhelm Tell mit Sohn Walterli.
    Ich schiebe mich an Asiaten und Freiheitskämpfern vorbei und steige ein paar Tritte in die tiefer liegende Raumhälfte. Dort steht unübersehbar der Figurenschlitten, in dem Eva Rechberger angeblich belästigt wurde. Die schmale, schalenförmige Sitzbank ist mit rotem Samt ausgepolstert. Davor fläzt eine geschnitzte Raubkatze von der Größe eines Bernhardiners. Das sonderbare Tier hebt tollpatschig die linke Pranke und sperrt den roten Rachen auf. Zweifelhaft, dass der Kunsthandwerker je einen richtigen Löwen zu Gesicht bekommen hat, denn der glänzend lackierte Holzkopf erinnert eher an einen schnurbärtigen Lakaien mit pomadiger Lockenfrisur als an den König der Tiere.
    Die beiden Chinesen verlassen rechtzeitig den Raum. Danach wird’s laut.
    »Aufgrund von Urkunden setzt das Hafnergewerbe in Heimberg um 1730 ein«, referiert die herannahende Direktionsassistentin mit überdeutlicher Aussprache.
    Oh weh! Die geführte Gruppe hat mich eingeholt. Für mich gibt es kein Entrinnen mehr. Ich kann auf der engen Stiege schwerlich gegen die Masse der herabsteigenden Menschen drängen. Nun muss ich mir die Ausführungen doch anhören, zumindest bis alle Touristen nachgetrippelt sind und sich das Treppenhaus wieder entleert hat. Theoretisch stünde mir ein Ausweg offen. Ich könnte die Flucht durch den Notausgang ergreifen, wie vor Wochen der Wüstling. Ein rascher Blick zur Tür stellt mich aber vor ein Rätsel: Auf einer Metalltafel links neben dem Notausgang ist ein grünes Piktogramm auf gelbem Grund abgebildet. Es zeigt ein Figürchen, das unzweifelhaft nach rechts spurtet. Darunter weist eine Hand mit gestrecktem Zeigefinger in die Gegenrichtung. Funktionaler wirkte das Türschloss, wäre dazu ein Schlüssel vorhanden.
    Bringt allenfalls ein rot umrandetes Glaskästchen Klarheit und Rettung? Gehört es überhaupt zum System der notfallmäßigen Selbstbefreiung? In seiner Mitte weisen zwei Pfeile auf einen schwarzen Knopf. Er lädt zur taktilen Kontaktnahme. Womit zertrümmert man seine gläserne Abdeckung?
    Inzwischen gibt die dynamische Referentin ihr Bestes: »Den typischen Alt-Heimberger-Stil erkennt man an seiner dunkelbraunen, seltener ziegelroten oder weißgelben Grundfarbe.« Vorsichtig öffnet sie eine Vitrine und entnimmt ihr eine Vase. Sie hebt sie auf Augenhöhe ins helle Licht einer Glühlampe und schwärmt: »Schauen Sie sich das mal an! Dieses wunderbare Stück wurde durch das Bemalen mit flüssiger Engobe veredelt. Anschließend wurde es mit einer transparenten Glasur überzogen. Großartig!«
    Eine ahnungslose Touristin der ersten Gruppenreihe streckt die Arme aus, als hoffe sie, das Keramikgefäß persönlich in Händen zu halten. Aber weit gefehlt! Umgehend begegnet die Direktionssekretärin der subalternen Fehldeutung institutionalisierter Privilegien mit empörtem Blick.
    Nach einer entrüsteten Kunstpause fährt sie fort: »Auf dem Höhepunkt der keramischen Entwicklung existierten im Raum Thun-Heimberg rund 80 Betriebe. Danach verdrängte die Einfuhr billiger Importware die heimischen Produkte.« Die Direktionssekretärin stellt die Vase an ihren angestammten Platz zurück und schließt im Tonfall einer Bestattungsbeamtin: »1920
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