Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Jan Costin Wagner
Vom Netzwerk:
Termin. Wirst du hingehen?«
    »Natürlich«, sage ich.
    Ich stelle mir vor, dass es draußen langsam dunkel wird, und Mara setzt sich neben mich, so nah, dass wir uns berühren, sie streichelt meinen Arm.
    »Wird es draußen schon dunkel?«, frage ich.
    Mara antwortet nicht. Ihre Hand wandert unter meinen Bademantel. Während sie mir zielsicher wohl- und wehtut, presse ich die Augen zusammen und stelle mir Mara vor, so wie ich mich an sie erinnern möchte.

2
    Was passiert ist:
    Erblindung über Nacht. Nicht zu erklären. Ich sitze an einem Strand und starre ins Leere, ich warte, ohne zu wissen, worauf. Irgendwann gehe ich zurück in mein Hotel und lasse die Jalousien herunter. Das Letzte, was ich sehe, ist eine Nachttischlampe, in dem Moment, in dem ich sie ausschalte.
    Der Arzt im Krankenhaus hört sich geduldig an, was ich zu sagen habe. Er kann mir nicht helfen. Er hat mir eine Erklärung gegeben. Eine drastische Entzündung der Netzhaut. Er sagt, es könne sich legen.
    Mara treffe ich an dem Tag wieder, an dem ich mein Augenlicht verliere. Sie ist auch im Krankenhaus, sie hat sich eine Schere in die rechte Hand gerammt. Ich erkenne ihre Stimme, obwohl so viele Jahre vergangen sind.
    Ich schreie ihren Namen. Sie umarmt mich und sagt: Ich möchte, dass du bei mir bleibst, bis das ausgestanden ist. Dann lässt sie sich ihre Hand verbinden. Ich frage nicht, warum Mara sich die Schere in die Hand gerammt hat, und ich habe keine Angst, als die alte Fähre Mara und mich auf Maras Insel bringt.
    Manchmal, wenn Mara zu sprechen beginnt, habe ich den Eindruck, sie werde mir in einem Satz die Welt erklären. Manchmal höre ich ihr stundenlang zu, ohne ein Wort zu verstehen. Wenn Mara mich berührt, spüre ich die Angst vor dem Moment, in dem sie loslässt. Sie lässt los, wann immer sie will. Sie kehrt immer zurück.
    Etwas, das lange vergessen war:
    Bevor ich Mara wiedertraf und ihr auf die Insel folgte, habe ich sie nur einmal gesehen, vor vielen Jahren, und wir haben wenig gesprochen. Sie legte sich neben mich auf meine Isomatte, unter meine Decke. Der Himmel war schwarz. Sie sagte, ich solle leise sein, um die anderen nicht zu wecken.
    Ich fahre mit Mara über das Wasser. Maras Hand an meinem Rücken, auf meiner Haut, sie hat sie unter mein T-Shirt geschoben. Die Hand ist kalt. Ich sehe das Schiff als Schattenriss, grau, ein Geisterschiff, und es fällt mir schwer, Farben in meine Gedanken zu zwingen.
    Ein sonniger Tag, ein heller blauer Tag, sagt Mara.
    Der Arzt im Krankenhaus tröpfelt etwas in meine Augen, sie brennen. Ich liege auf dem Rücken und soll die Augen geschlossen halten, bis die Tropfen in die Augenhöhlen gesickert sind.
    Mara schläft. Ich höre sie atmen wie vor vielen Jahren.
    Ich habe damals lange wach gelegen. Ich erinnere mich, dass ich verkrampft lag, weil ich Angst hatte, Mara zu wecken. Mir war kalt, weil sie im Schlaf die Decke zu sich gezogen hatte. Ich habe in den schwarzen Himmel gestarrt und bin erst am Morgen eingeschlafen, es wurde gerade hell. Kurz bevor ich einschlief, dachte ich darüber nach, wie es weitergehen würde mit Mara und mir, und als ich später aufwachte, war Mara verschwunden. Heute, am Morgen auf unserer Insel, frage ich sie, warum sie damals gegangen ist, ohne mich zu wecken, ohne noch etwas zu sagen.
    »Ach das«, sagt Mara, schlaftrunken.
    Ich bin zu perplex, um etwas zu erwidern.
    »Ich musste meinen Zug erwischen«, sagt Mara.
    Ich warte. Sie lacht. Dann sagt sie: »Wie wäre es mit: Jedes weitere Wort hätte uns ein wenig von dem genommen, was wir uns gegeben haben.«
    Sie lacht wieder, und ich denke, dass sie einen schönen Satz gesagt hat, genau den, nach dem ich lange gesucht habe.

3
    Ich, früher:
    Wer bin ich gewesen? Eine einfache, nicht zu beantwortende Frage.
    Wir knien auf dem Sand. Ich stelle mir vor, dass Mara auf das Meer hinaussieht. Dieses Mal scheint wirklich die Sonne, und der Himmel ist wirklich blau, glaube ich.
    Wir sind allein. Ich rede wie im Rausch, ich spüre, wie ich mich hineinsteigere. Während ich spreche, frage ich mich, ob ich es ernst meine, und das treibt mich an, lauter und schneller zu sprechen.
    Ich sage Mara, dass ich glücklich bin, nicht mehr sehen zu können. Denn ich hätte Mara nicht wieder getroffen, wenn ich nicht genau am selben Tag wie sie im Krankenhaus gewesen wäre. Ich sage, dass ich mein Augenlicht gegen Mara getauscht habe, und es sei ein guter Tausch gewesen, und ich lache befreit. Ich sage, dass ich glücklich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher