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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde
Autoren: Kelley Armstrong
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neben mir und hielt meine Hand. Mein Blick fiel auf die Schwestern, die im Gang vorbeischwebten. Sie folgte meiner Blickrichtung, stand auf und schloss die Tür. Durch den Schleier von Tränen beobachtete ich sie und stellte mir vor, sie sei meine Mom. Etwas in mir gab nach, und ich war wieder sechs Jahre alt, kauerte auf dem Bett und weinte nach meiner Mutter.
    Ich strich mit den Händen über die Überdecke, sie war steif und kratzig, und Fasern blieben an meiner rauhen Haut hängen. Das Zimmer war so heiß, dass sich meine ausgetrocknete Kehle bei jedem Atemzug zusammenzuziehen schien. Tante Lauren gab mir mein Wasser, und ich legte die Hände um das kühle Glas. Das Wasser schmeckte metallisch, aber ich schluckte es hinunter.
    »Eine betreute Wohngruppe«, sagte ich. Die Wände schienen mir die Worte aus dem Mund zu saugen wie bei einer Tonbühne, sie zu verschlucken und nur tote Luft zu hinterlassen.
    »O Gott, Chloe.« Sie holte ein Papiertuch aus der Tasche und wischte sich über die Nase. »Weißt du, wie oft ich schon einem Patienten habe sagen müssen, er würde sterben? Und irgendwie ist das hier noch schlimmer.«
    Sie drehte sich so, dass sie mir ins Gesicht sah. »Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, an der UCLA studieren zu können. Und dies ist die einzige Methode, wie wir es schaffen können, dass die dich nehmen, Liebes.«
    »Ist es Dad?«
    Sie zögerte, und ich wusste, dass sie die Schuld gern auf ihn geschoben hätte. Nach dem Tod meiner Mutter hatte sie mich zu sich nehmen wollen, um mir ein Leben mit Haushälterinnen und leeren Wohnungen zu ersparen. Sie hatte meinem Vater niemals verziehen, dass er seine Zustimmung verweigert hatte. Ebenso wenig wie sie ihm die Nacht verziehen hatte, in der meine Mutter gestorben war. Es kam nicht darauf an, dass ihr Auto von einem anderen gestreift worden war, dessen Fahrer daraufhin Unfallflucht begangen hatte – mein Vater hatte am Steuer gesessen, also machte sie ihn verantwortlich.
    »Nein«, sagte sie schließlich. »Es ist die Schule. Du musst zwei Wochen unter ärztlicher Beobachtung in dieser Einrichtung verbringen, sonst kommt die Sache in dein Zeugnis.«
    »Was kommt dann in mein Zeugnis?«
    Ihre Finger schlossen sich um das Tuch herum zur Faust. »Es ist diese verd…« Sie unterbrach sich. »Es ist die Null-Toleranz-Vorgabe.« Sie spuckte die Worte so hasserfüllt aus, dass sie übler klangen als jeder Fluch.
    »Null Toleranz? Du meinst bei Gewalttätigkeit? A-aber ich habe doch nicht …«
    »Ich weiß, dass du nichts getan hast. Aber in ihren Augen ist es ganz einfach. Du hast gegen einen Lehrer angekämpft. Jetzt brauchst du Hilfe.«
    In einem Heim. Für psychisch gestörte Jugendliche.
     
    Ich wachte in dieser Nacht mehrmals auf. Beim zweiten Mal sah ich meinen Vater in der Tür stehen. Beim dritten Mal saß er an meinem Bett. Als er sah, dass meine Augen offen waren, streckte er den Arm aus und tätschelte mir verlegen die Hand.
    »Es kommt schon wieder in Ordnung«, murmelte er. »Es kommt alles wieder in Ordnung.«
    Ich schlief wieder ein.
     
    Mein Vater war auch am nächsten Morgen noch da. Seine Augen waren verquollen, die Falten um den Mund tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte. Er war die ganze Nacht wach gewesen, weil er von Berlin aus nach Hause geflogen war.
    Ich glaube nicht, dass Dad jemals Kinder wollte. Aber das würde er mir gegenüber niemals zugeben, nicht mal im Streit. Was Tante Lauren auch von ihm hält, er tut sein Bestes. Er scheint einfach nicht recht zu wissen, was er mit mir anfangen soll. Ich bin wie ein Hündchen, das ihm von jemandem hinterlassen wurde, den er sehr geliebt hat. Und er versucht nun, ihm gerecht zu werden, obwohl er eigentlich kein Hundeliebhaber ist.
    »Du hast deine Haarfarbe geändert«, sagte er, als ich mich aufsetzte.
    Ich wappnete mich. Wenn man schreiend durch die Flure seiner Schule rennt, nachdem man sich kurz zuvor auf dem Mädchenklo die Haare gefärbt hat, dann fragen die Leute als Erstes – na ja, sobald sie das mit dem Schreiend-durch-den-Flur-Rennen abgehakt haben – »Du hast
was
gemacht?«. Sich auf dem Schulklo die Haare färben ist nicht normal. Nicht bei Mädchen wie mir. Und leuchtend rote Strähnen? Während man gleichzeitig den Unterricht schwänzt? Das brüllt geradezu
Nervenzusammenbruch
.
    »Gefällt es dir?«, fragte mein Vater nach einem Augenblick.
    Ich nickte.
    Er zögerte und gab dann ein angespanntes kleines Lachen von sich. »Na ja, es ist nicht ganz das,
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