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Schattenseelen Roman

Schattenseelen Roman

Titel: Schattenseelen Roman
Autoren: Olga Krouk
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sie seine Präsenz immer noch spüren. Es gruselte sie, doch Evelyn schloss die Augen und konzentrierte sich auf das befremdliche Gefühl. Sollte sie Recht haben, dann war er immer noch im Krankenhaus, bereits auf der Suche nach seinem nächsten Opfer. Sie stand auf und ließ sich von ihrer Wahrnehmung führen.
    Als sie schließlich stehen blieb, fand sie sich im dritten Stock vor einem Krankenzimmer wieder, eine Hand auf die Klinke gelegt. Sie fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen.
    Eins, zwei - jetzt! Sie riss die Tür auf.
    Im Zimmer lag eine alte Frau, das andere Bett war frisch bezogen und leer. Das Fenster stand offen; die
nächtliche Brise bauschte die Vorhänge, von denen einer halbabgerissen hinunterhing. Die Lampe warf ihr schwaches Licht auf die Patientin. Ein Nachtschwärmer flatterte darunter hin und her, vergeblich bemüht, Freiheit zu erlangen.
    »Du hast ihn vertrieben, mein Kind.« Der Atem der Alten rasselte, und die Worte lösten sich darin auf. Evelyn musste lauschen, um sie zu verstehen. Gleich darauf setzte Husten ein, der die schwache Brust aufzureißen schien. Mit jedem Schnappen nach Luft verlor die Arme den Kampf um ihr Leben ein Stückchen mehr.
    »Wen?« Evelyn trat ans Bett. Ein säuerlicher Geruch stieg ihr in die Nase, gemischt mit dem Duft von Mottenkugeln, den das Nachthemd der Kranken verströmte.
    »Den Tod.«
    Evelyn erzwang ein Lächeln. »Wie gut, dass ich in der Nähe war.« Und hätte beinahe hinzugefügt: Heute ist bereits genug gestorben worden. Ihre anfangs ruhige Schicht in der Notaufnahme artete in ein Horror-Szenario aus. Vielleicht war alles doch nur das Produkt ihrer Fantasie? Unter Schock hatten Menschen weit seltsamere Dinge erlebt.
    Die Frau schloss die fast durchscheinenden Lider. Ihre Augäpfel flatterten hin und her wie ein seltsames Uhrwerk. »Es war ein Traum von Liebe. Und Leidenschaft.«
    Evelyn senkte den Kopf. Noch eine, die fantasierte.
Die dünnen Lippen hatten sogar eine Schnute gezogen, als sei sie beleidigt, weil Evelyn einen guten Bekannten aus dem Zimmer gescheucht hätte.
    »Dann tut es mir leid.« Sie setzte sich ans Bett und berührte die Hand der Kranken, ohne zu wissen, warum sie das tat.
    Die Alte forschte in ihrem Gesicht. Evelyn wollte sich diesen Augen entziehen, aber auch wenn sie die Frau nicht anschaute, fühlte sie ihren Blick auf sich lasten.
    »Du hast dieselben Augen, mein Kind. Ja, ja, die hast du. So hungrig und lauernd und … wunderschön.«
    »Dieselben Augen? Wie wer?« Sie wollte aufstehen, doch die Frau umschloss ihr Handgelenk mit einer Kraft, die Evelyn ihr nie zugetraut hätte.
    »Wie der Tod. Bist du hier, um mich auf die andere Seite zu begleiten?«
    »Eigentlich sind die meisten von uns hier, um genau das nach Möglichkeit zu verhindern. Jetzt lassen Sie mich bitte los.« Sie beugte sich zu der Kranken, fühlte sich mit einem Mal müde und erschöpft. Die Worte der Alten schwirrten in ihrem Kopf wie der ungebetene Nachtschwärmer unter der Lampe - nein, sogar wie ein ganzer Schwarm davon -, ergaben aber keinerlei Sinn.
    »Sie sollten sich lieber ausruhen«, sagte sie. »Es ist so spät. Schlafen Sie gut.« Von einem seltsamen Drang bewegt, dem sie nicht widerstehen konnte,
gab Evelyn der Kranken einen Kuss. Und vergaß für einen Moment alles andere, was sie umgab oder beschäftigte.
    Mit dem Daumen strich sie über die spröde Hand. Die Finger ähnelten trockenen Zweigen, die bei einem auch noch so geringen Druck brechen könnten. Die Frau stieß ein Seufzen aus. Evelyn schreckte zurück und verharrte, wieder ihrer selbst bewusst.
    Ein Lächeln umspielte die Lippen der Kranken. Ein wohlbekanntes Lächeln. Wie das von Doktor Kehrfeld, mit dem er seinen Tod begrüßt hatte. Die Frau regte sich nicht mehr.
    Nur der Nachtschwärmer warf sich gegen die Lampe. Immer und immer wieder.
     
    Evelyn saß im Pausenraum und schlürfte den Kaffee. Ohne Sahne und Zucker. Die Brühe belegte ihre Zunge mit einer bitteren Schicht. Dieselbe Bitterkeit legte sich auf ihr Gemüt. Auch das lustige Mäulchen auf ihrem Becher vermochte den Trübsinn nicht zu verscheuchen.
    Sie drehte die Tasse in den Händen und erhaschte auf der dunklen Oberfläche den Blick auf ihr Spiegelbild. Hatte sie wirklich Augen wie der Tod?
    Seltsamerweise fühlte sie sich wie neu geboren, als hätte in ihr ein zweiter Atem eingesetzt, gerade in dem Moment, als der Atem der alten Frau für immer versiegt war …
    Schwachsinn! Evelyn knallte die Tasse auf
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