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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz
Autoren: Rose Gerdts
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Hände. «Wir werden uns natürlich gegenseitig besuchen. Und in der Zwischenzeit kannst du endlich mal ungestört deine Kriminalfälle lösen. Ich liebe dich, Navideh! Du kannst mir glauben, die paar Monate ändern nichts für mich.»
    Navideh hatte ihm geglaubt. Aber sie wusste nicht, ob die einsame Entscheidung, die Jorges getroffen hatte, nicht etwas für
sie
änderte.
    Eine Woche später lag ein dicker Briefumschlag von der Brown University im Briefkasten. Jorges fiel ihr abends jubelnd um den Hals, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Ihr Freund war völlig aus dem Häuschen. «Ich habe das Stipendium bekommen! Stell dir vor, sie haben es mir gegeben, ausgerechnet mir!»
    Navideh hatte nie daran gezweifelt. Jorges’ Bewerbung las sich sehr überzeugend. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er mit 17 Jahren von zu Hause ausgerissen war und seitdem hart für seine Ziele kämpfte. Er hatte sich als Jongleur in Südosteuropa herumgeschlagen, war schwer erkrankt und hatte nach seiner Genesung als Taxifahrer gejobbt, um sich eine Ausbildung als Krankenpfleger zu finanzieren. Das Studium ging er ähnlich engagiert an. Er wollte unbedingt Arzt werden. Amerikaner liebten solche Geschichten. Lebenswege voller Dramatik. Und auch Navideh hatte sich unter anderem deswegen in Jorges verliebt, weil er sich stets treu geblieben war und für seine Ideale kämpfte. Eines Tages wollte er nach Rumänien zurückkehren und dort medizinische Hilfe für Straßenkinder leisten.
    Navideh seufzte und beobachtete fasziniert, wie sich die Wellen des Mittelmeers an einer winzigen, vorgelagerten Insel brachen. Sie konnte sich nicht sattsehen an den Wogen, die sich schäumend aufbäumten und den Fels sekundenlang verschlangen. Die Macht des Meeres beeindruckte sie – und sie machte ihr insgeheim Angst.
    Das Wasser war unergründlich. Unberechenbar.
    Gedankenverloren kramte sie in einem Stapel alter Frauenzeitschriften, den die Vormieter liegengelassen hatten. Ohne wirklich zu lesen, durchblätterte sie zwei Hefte. Zu ihrer Überraschung befand sich in dem Stapel auch eine ältere Ausgabe des
Weser-Kuriers
aus Bremen. Navideh schaute aufs Datum: Die Zeitung stammte aus dem Frühjahr. Die Schlagzeilen der internationalen Politik wurden von einem Anschlag in Pakistan beherrscht. Sie überflog den Artikel. Ein Selbstmordattentäter hatte ein Blutbad auf einem Marktplatz verübt. 22 Todesopfer, über achtzig Verletzte. Navideh las die Zahlen und hatte sie sofort wieder vergessen. Der Mittlere Osten war weit weg. Tatsächlich, dachte sie mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, waren Länder wie Pakistan und auch Afghanistan für sie nichts anderes als Synonyme für die ewig selben deprimierenden Artikel über Unruheregionen dieser Welt.
    Nach wenigen Minuten blätterte sie auf die Lokalseiten der Zeitung um und blieb an einem Gerichtsprozess hängen, der sich mit einem gewalttätigen Brüderpaar beschäftigte. Sie selbst war bei den Ermittlungen gegen die Männer mit eingebunden gewesen.
    Ein weiterer Beitrag beschäftigte sich mit den vergeblichen Bemühungen einer Elterninitiative, Räume für ihre Kindergruppe zu finden. Die Bremer Bürgerschaft hatte einhellig beschlossen, künftig Kinderlärm gesetzlich nicht mehr mit Verkehrs- oder Gewerbelärm gleichzusetzen. Unbewusst schüttelte Navideh den Kopf. Sie lebte nun schon so lange in Deutschland und nicht mehr im Iran, aber es gab Momente, in denen sie noch immer staunte, über welche Selbstverständlichkeiten die Menschen in ihrer neuen Heimat sich stritten. Kinderlärm!
    Sie überlegte, ob es für das Wort eine Übersetzung im Persischen gab. Vermutlich würden viele Iranerinnen gar nicht verstehen, warum die Elterninitiative solche Schwierigkeiten bei der Raumsuche hatte.
    Auf der dritten Lokalseite stand eine kleine Notiz, dass ein 25-jähriger Mann auf der Autobahn A1 zwischen zwei Anschlussstellen nachts auf die Fahrbahn gelaufen war. Ein Lastwagen hatte den Mann überrollt. Er war noch am Unfallort gestorben. Ermittlungen der Verkehrspolizei ergaben, dass er seinen Suizid akribisch geplant und seine Möbel in der Wohnung zum Abtransport bereitgestellt hatte. Seinen Hund hatte er zuvor unter einem Vorwand bei der Schwester untergebracht. Navideh konnte sich nicht mehr an den Vorfall erinnern. Selbstmorde gab es jede Woche.

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    02
    Verstohlen musterte Frank Steenhoff seine Kollegin, die ihm gegenüber in dem winzigen Büro mit den Dachschrägen saß und
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