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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz
Autoren: Rose Gerdts
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die Unterlagen zu einem alten Mordfall las.
    Der wuchernde Benjamini zwischen ihnen verdeckte nur einen Teil von ihr. Navideh Petersen hatte sich von ihrem Schreibtisch weggedreht und die Füße auf den Rand des Papierkorbs gelegt. Auf ihrem Schoß lag ein dicker Aktenordner, in den sie völlig vertieft schien. Bewundernd stellte Steenhoff zum wiederholten Male fest, dass seine Kollegin die langen Beine eines Models hatte. Wie auch ihre übrige Erscheinung im Präsidium immer wieder für begehrliche Blicke sorgte. Dabei gab sich Petersen betont leger. Auch heute trug sie einen flachen, modischen Turnschuh, Jeans sowie einen engsitzenden, leuchtend blauen Pullover. Der Teint, den sie von ihrer Kurzreise nach Mallorca mitgebracht hatte, schien perfekt zu ihrer Kleidung zu passen. Doch wie Steenhoff seine Kollegin einschätzte, hatte sie morgens nur in aller Eile etwas aus dem Kleiderschrank gezogen, was ihr erlaubte, möglichst bequem durch den Tag zu kommen.
    Ohne aufzublicken, griff Petersen zum Teebecher, der auf ihrem Schreibtisch stand, und pustete gedankenverloren hinein. Dann nippte sie vorsichtig daran. Steenhoff sah sie aufmerksam an.
    «Dein Tee ist kalt. Der dampft schon lange nicht mehr.»
    Petersen sah kurz hoch, schien aber durch ihn hindurchzublicken. Kopfschüttelnd murmelte sie eine Antwort, die er nicht verstand, und machte sich mit dem Bleistift eine Notiz am rechten Rand der Seite.
    Steenhoff wartete. Aber für Petersen schien das Gespräch schon wieder beendet. Er zuckte die Schultern und versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Das Verhalten seiner jüngeren Kollegin irritierte ihn. Seit sie aus ihrem Urlaub zurückgekehrt war, schien Petersen zurückgezogen und nachdenklich. Nur kurz hatte sie Steenhoff erzählt, dass sie kreuz und quer über die Insel geradelt war und sich abends mit einem Stapel Bücher vergnügt hatte.
    Wahrscheinlich habe ich sie wieder mal auf dem falschen Fuß erwischt, dachte Steenhoff. Seit vier Jahren teilten sie sich nun gemeinsam mit dem großen Benjamini das kleine Büro unterm Dach. Außer Manfred Rüttger, seinem langjährigen Kollegen von den Brandursachenermittlern, der manchmal bei ihnen in der Mordkommission aushalf, hätte er sich keinen besseren Partner als Navideh Petersen vorstellen können. Sie war intelligent, verlässlich und hatte oft ungewöhnliche Ideen – aber an manchen Tagen war sie ihm ein einziges Rätsel.
    So wie heute.
    Steenhoff beschloss, noch einen Anlauf zu wagen und ihr eine Brücke zu bauen. «Ich koche mir einen Kaffee, möchtest du noch einen frisch aufgegossenen, persischen Tee, Navideh?»
    «Hm.»
    «Hm, ja oder hm, nein», versuchte Steenhoff, sie aus der Reserve zu locken.
    «Danke, nein.»
    Irritiert bemerkte er, dass sie während ihres knappen Dialogs noch nicht einmal von ihrer Akte hochgeschaut hatte.
    Verdammt, wenn er mal wieder in irgendein Fettnäpfchen getreten war, dann sollte sie es endlich sagen, anstatt zwischen den verstaubten Aktendeckeln eines ungelösten Mordfalls aus den achtziger Jahren zu schmollen.
    «Und sonst geht es aber gut?», schob Steenhoff bissig hinterher.
    Erstaunt sah ihn Petersen an. «Ist irgendetwas, Frank?»
    «Das könnte ich dich fragen.» Steenhoff richtete sich auf und fixierte sie übertrieben streng. «Du kommst aus dem Urlaub zurück, wirfst ein paar magere Brocken zum Wetter und der Geographie der Insel ins Kommissariat und tauchst in deine Akte ab. Auf deiner Stirn steht ‹Nicht stören› mit einem dicken Ausrufezeichen dahinter. Und jetzt willst du noch nicht mal einen persischen Tee. Also, mit anderen Worten: Womit, werte Kollegin, habe ich so viel Missachtung verdient?»
    Zu seiner Überraschung seufzte Petersen tief.
    Er wartete.
    «Ach, ich muss einfach oft darüber nachdenken, wie das so weitergehen soll.»
    «Ganz einfach», nahm Steenhoff den Ball auf. «Wir werden hier gemeinsam sitzen, bis sie dich in fünf Jahren zur Kripochefin machen und du ein großes Einzelzimmer im ersten Stock des Polizeipräsidiums beziehen darfst. Aber eines ist hoffentlich klar: Für unseren Benjamini bekomme ich das alleinige Sorgerecht. Der Baum bleibt bei mir», sagte Steenhoff mit gespieltem Ernst.
    Petersen schüttelte den Kopf. «Frank! Ich spreche nicht von uns, sondern von Jorges und mir.» Sie griff eine Büroklammer, die auf ihrem Tisch lag, und ließ sie zwischen ihren Fingern hin- und hergleiten. «Er will ausziehen.» Ihre schlanken Finger bogen die Klammer
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