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Schattenmacht

Schattenmacht

Titel: Schattenmacht
Autoren: Anthony Horowitz
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Jamie. »Wohin?«
    »Wusste er nicht.« Jamie setzte sich. »Oh Mann, es wäre super, von hier abzuhauen. Weg aus Reno.«
    Scott schien kurz nachzudenken. Er starrte immer noch an die Decke. »Ich glaube nicht, dass das einen Unterschied macht«, sagte er schließlich. »Es wäre woanders ganz genauso – oder schlimmer.«
    Jamie trank einen Schluck Cola. Sie war warm und hatte keine Kohlensäure mehr. Er wandte den Kopf und musterte seinen Bruder auf dem Bett. Scott hatte sein Hemd aufgeknöpft, sodass sein Bauch und seine Brust zu sehen waren. Die Hemden sahen auf der Bühne gut aus, aber sie waren aus billigem Nylon, in dem man furchtbar schwitzte. In diesem Augenblick sah Scott nicht aus wie vierzehn. Er hätte ebenso gut vierundzwanzig sein können.
    Jamie musste sich oft daran erinnern, dass sie tatsächlich gleich alt waren. Sie waren Zwillinge. Zumindest das war sicher. Und trotzdem betrachtete er Scott als seinen älteren Bruder, was nicht nur an den körperlichen Unterschieden zwischen ihnen lag. Solange er sich erinnern konnte, hatte Scott auf ihn aufgepasst. Irgendwie war es nie andersherum gewesen. Wenn Jamie seine Albträume hatte, irgendwo in einem schäbigen Motel oder einem gammligen Wohnwagen, war Scott da gewesen und hatte ihn getröstet. Wenn er Hunger hatte, besorgte Scott etwas zu essen. Wenn Don White oder seine Freundin Marcie gemein wurden, stellte sich Scott zwischen sie und seinen Bruder.
    So war es immer gewesen. Andere Kinder hatten Eltern. Andere Kinder gingen zur Schule und hingen mit ihren Freunden herum. Sie hatten Fernseher und Computerspiele und fuhren ins Ferienlager. Das alles hatte Jamie nie gehabt. Es war, als spielte das wirkliche Leben irgendwo anders, und ihn hatte man einfach am Spielfeldrand ausgesetzt.
    Manchmal dachte er zurück an das Leben, das er geführt hatte, bevor Onkel Don gekommen war und Scott und ihn in die Welt der Illusionen geholt hatte. So lange war das noch nicht her. Aber als aus den Tagen Wochen und Monate wurden, fiel es ihm immer schwerer, sich zu erinnern, und jetzt kam es ihm vor, als hätte er all seine Erinnerungen auf einer einzigen langen Straße verloren. Übrig geblieben waren nur schäbige Theater, Zirkuszelte, Hotels, Motels, Wohnwagen und Wohnmobile. Stunden, die er auf den staubigen Straßen quer durch Nevada verbracht hatte. Ständig unterwegs, oft mitten in der Nacht, immer auf der Jagd nach dem nächsten Dollar.
    Er fragte sich, wie er die letzten drei Jahre überlebt hatte, ohne verrückt zu werden. Aber im Grunde kannte er die Antwort. Sie lag ausgestreckt vor ihm auf dem Bett. Scott war immer für ihn da. Er war sein Beschützer und gleichzeitig sein einziger Freund. Sie waren immer zusammen gewesen. Und das würde auch so bleiben. Schließlich war der Unfall nur passiert, weil Erwachsene versucht hatten, sie zu trennen. Der Unfall war der Anfang des Albtraums gewesen, in dem sie jetzt steckten. Jamie betrachtete seinen Bruder, der inzwischen eingeschlafen zu sein schien. Seine nackte Brust hob und senkte sich langsam, und Schweiß schimmerte auf seiner Haut. Er dachte wieder an das zurück, was Scott ihm gesagt hatte, in jener Nacht, in der sie zum ersten Mal in einem großen Zelt in der Nähe von Las Vegas aufgetreten waren.
    »Mach dir keine Sorgen, Jamie. Das überstehen wir auch. Noch fünf Jahre, dann sind wir sechzehn. Dann können sie uns nicht länger festhalten. Sie können uns zu nichts zwingen, was wir nicht wollen.«
    »Und was machen wir dann?«
     
    »Wir finden schon was. Vielleicht gehen wir nach Kalifornien. Nach Los Angeles.«
    »Wir können im Fernsehen auftreten.«
    »Lieber nicht. Die würden uns für Freaks halten.« Scott hatte gelächelt. »Vielleicht können wir unsere eigene Firma gründen… du und ich.«
    »Wenigstens wüssten wir, was die Konkurrenz denkt.«
    »Genau.« Scott erwärmte sich für diese Idee. »Wir könnten es wie Bill Gates machen. Millionen verdienen und dann in den Ruhestand treten. Warte es nur ab. Wenn wir erst sechzehn sind, hält uns keiner mehr auf.«
    Bis dahin waren es nun noch zwei Jahre, aber in Jamie wuchs die Angst. Es kam ihm vor, als verblasste ihr Traum mit jedem Tag ein wenig mehr. Scott wurde immer stiller und abwesender. Er konnte stundenlang einfach daliegen, nicht schlafend, aber auch nicht richtig wach. Es war, als würde langsam etwas aus ihm herausgesogen, und Jamie fühlte sich verloren. Scott war doch der Starke. Scott wusste immer, was zu tun war. Wenn es sein
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