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Schattenmacht

Schattenmacht

Titel: Schattenmacht
Autoren: Anthony Horowitz
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Hand.
    »Es ist ein Schlüssel«, sagte Scott.
    Jamie hielt den Schlüssel hoch, damit ihn alle sehen konnten. Die Zuschauer klatschten wieder. Einige flüsterten miteinander und schüttelten ungläubig den Kopf.
    »Versuchen wir etwas Schwierigeres!«, rief Jamie. »Hat jemand von Ihnen eine Visitenkarte dabei? Was ist mit Ihnen, Sir?«
    Er war vor zwei Männern stehen geblieben, die nebeneinander saßen. Ihm war bisher nur aufgefallen, dass sie beide braune Leinenanzüge trugen, was ungewöhnlich war, weil sich in Reno eigentlich niemand so elegant kleidete. Andererseits wählte Jamie für diesen Teil seiner Show immer jemanden aus, der ein Jackett trug. Aus Erfahrung wusste er, dass Männer meistens eine Brieftasche dabeihatten, in der auch Visitenkarten waren. Bei Frauen dauerte es zu lange, weil sie erst in der Handtasche wühlen mussten. Ihre Show sollte genau achtzehn Minuten dauern. Wenn er die überzog, würde es Ohrfeigen setzen. Oder Schlimmeres.
    Jamie wartete darauf, dass der Mann in seine Tasche griff, und als das nicht geschah, sah er zu ihm hinunter. Sofort wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. In diesem Moment wünschte er, jemand anderen gewählt zu haben. Bisher hatte er sich in der feuchten Hitze des Theaters durch die Show gequält. Die Klimaanlage funktionierte nicht richtig – wie immer. Aber der Anblick dieses Mannes wirkte auf ihn wie ein Eimer kaltes Wasser mitten ins Gesicht.
    Es lag nicht nur daran, dass er hässlich war. Jamie hatte bei seinen Shows viele unangenehm wirkende Leute gesehen – manchmal hatte er sich sogar gefragt, ob das Reno Theater sie vielleicht anzog. Aber dieser Mann war mehr als nur hässlich. Es war etwas Unmenschliches an ihm, an der Art, wie er Jamie anstarrte, mit Augen, die so hellblau waren, dass sie fast farblos wirkten. Der Mann hatte eine Glatze, aber das konnte nicht am Alter liegen – und rasiert hatte er sich den Schädel auch nicht. Es waren keine Stoppeln zu sehen. Dasselbe galt für sein Gesicht. Er hatte keine Augenbrauen. Keine Bartstoppeln auf seinen Wangen oder dem Kinn. Sein ganzes Gesicht sah aus wie eine straff über die Knochen gespannte Maske, die zu keiner Gefühlsregung fähig war. Er hatte sehr kleine und sehr weiße Zähne. Sie sahen unecht aus.
    »Er will eine Visitenkarte von dir«, sagte der Mann neben ihm. Er hatte eine leise Stimme und einen Akzent aus dem Süden.
    Dieser Mann hatte Haare. Sie waren schwarz und fettig, und er trug einen Pferdeschwanz. Er hatte auch einen mickrigen kleinen Bart, der ein Dreieck unter seiner Unterlippe bildete. Er trug eine billige Sonnenbrille aus Plastik mit verspiegelten Gläsern, sodass seine Augen nicht zu sehen waren. Er roch nach billigem Aftershave, doch der Geruch konnte die Tatsache nicht überdecken, dass er seine Kleidung öfter wechseln und sich häufiger waschen sollte. Es war unmöglich zu sagen, ob er jünger oder älter war als sein Begleiter. Beide waren irgendwie alterslos.
    Jamie wurde bewusst, dass mehrere Sekunden verstrichen waren, ohne dass etwas passiert war. Er schluckte. »Eine Visitenkarte«, wiederholte er.
    Das Schweigen dehnte sich aus. Jamie wollte gerade aufgeben und jemand anderen um Hilfe bitten, als der Kahlkopf plötzlich die Schultern zuckte und in seine Tasche griff. »Klar«, sagte er. »Wenn’s weiter nichts ist…«
    Er holte eine Brieftasche hervor, zog eine Karte heraus und hielt sie einen Moment lang zwischen seinen schmutzigen Fingern, als müsste er erst zu einer Entscheidung kommen. Doch dann reichte er Jamie die Karte. Jamie betrachtete sie. Es stand ein Name darauf und darunter eine Firma.
     
    COLTON BANES
    NIGHTRISE CORPORATION
     
    Darunter standen eine Adresse und eine Telefonnummer, aber im Halbdunkel des Zuschauerraums konnte Jamie die winzigen Buchstaben nicht entziffern.
    Der Mann sah ihn neugierig an, als wollte er ihm direkt ins Gehirn starren. Mühsam riss Jamie seinen Blick los und drehte sich zur Bühne. Er versuchte zu sprechen, aber sein Mund war zu trocken. Er schluckte und versuchte es noch einmal.
    »Scott, kannst du mir sagen, wo dieser Herr arbeitet?«, rief er.
    Von der Bühne kam nur Schweigen. Was war los?
    Doch dann sprach Scott. »Klar, Jamie. Er arbeitet für die Nightrise Corporation. «
    Der Mann lächelte. »Das stimmt«, sagte er so laut, dass ihn alle hören konnten. Aber in Jamies Ohren klang seine Stimme fast verächtlich, als wäre es ihm vollkommen gleichgültig, ob der Trick funktioniert hatte oder nicht.
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