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Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Titel: Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Autoren: Anne Holt
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ist alles in Ordnung.«
    Natürlich ist bei ihm alles in Ordnung, dachte Inger Johanne gereizt. Sie machte sich keine Sorgen um Yngvar. Sie wollte, dass er sich um sie Sorgen machte, nach allen Mitteilungen, die sie auf seiner Mailbox hinterlassen hatte.
    Aus dem Wohnzimmer roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee, und Inger Johanne fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, ehe sie barfuß hineinstapfte und die Tasse nahm, die die Mutter ihr hinhielt.
    »Danke. Großer Gott, hab ich lange geschlafen.«
    Reflexartig wappnete sie sich für die Zurechtweisung, die jetzt kommen würde. Ihre Mutter konnte nicht einmal die mildesten Formen von Flüchen ertragen.
    »Das hat dir sicher gutgetan«, sagte die Mutter jedoch nur. »Milch? Ich hab sie warm gemacht.«
    Inger Johanne schloss die Hände um die glühend heiße Tasse und ging zum Fenster.
    »Nein, danke. Ich glaube, ich brauche jetzt schwarzen. Gibt’s was Neues?«
    Sie nickte kurz zum Fernseher hinüber, der lautlos
lief.
    »Jede Menge«, sagte die Mutter kurz. »Viel zu viel. Du kannst dir um sieben die Zusammenfassung in den Nachrichten ansehen.«
    »Hast du denn geschlafen?«
    »Ein bisschen.«
    »Aber Mama, du musst ...«
    »In meinem Alter braucht man fast keinen Schlaf mehr. Ich war mit Jack unterwegs, sogar ziemlich lange. Er ist noch steifbeiniger als ich, aber wir haben das gut geschafft. Ich hatte außerdem etwas zu erledigen.«
    »Du warst draußen? Ich habe rein gar nichts gehört, Mama, ich muss wohl ...«
    »Hier«, sagte die Mutter und reichte ihr ein Mobiltelefon.
    »Wem gehört das?«
    »Dir. Das alte ist ja zerbrochen.«
    Die Mutter schwenkte den neuen Android.
    »Nimm es schon! Der reizende junge Mann im Storsenter hat gesagt, du müsstest eigentlich selbst unterschreiben, aber diese grauenhafte Tragödie hat die Leute offenbar verändert. Also ging es auch so. Er hat die Dingskarte aus deinem alten Telefon umgesteckt und alles bereit gemacht.«
    »SIM-Karte«, sagte Inger Johanne. »Danke. Tausend Dank, Mama.«
    Als sie nach dem neuen Smartphone greifen wollte, überkam sie eine entsetzliche Übelkeit. Der Schwindel ließ sie taumeln, und die Mutter konnte das Telefon gerade noch an sich reißen, ehe die noch fast volle Kaffeetasse zu Boden fiel. Inger Johanne griff sich an den Mund und stürzte ins Badezimmer.
    »Ich bringe Eiswürfel und einen Lappen«, hörte sie die Mutter sagen.
    »Nein«, stöhnte Inger Johanne, als ein plötzlicher Gedanke sie zwang, sich heftig zu übergeben. »Nein!«
    Es ging daneben. Das Erbrochene floss über den Toilettensitz und lief nach unten auf die Fliesen, dünnflüssig und stinkend, und sie erbrach sich ein weiteres Mal. Dann war nichts mehr in ihrem Magen. Mit der einen Hand stützte sie sich an der Wand ab und erhob sich vorsichtig, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
    »Das kann einfach nicht sein«, flüsterte sie und legte die eine Hand behutsam um ihre rechte Brust.
    Inger Johanne war dreiundvierzig Jahre alt und fühlte sich auch nicht jünger. Im Gegenteil: Sie staunte oft über Yngvar, der, weit über fünfzig, eine spielerische, pragmatische Herangehensweise an das Leben hatte, wenn es sich sperrig zeigte. Er war immer so viel jünger gewesen als sie. Flexibler. Inger Johanne brauchte es so, wollte es so, und jetzt, wo die Kinder heranwuchsen, wurde es immer leichter, über den Unfug zwischen ihm und den Mädchen zu lächeln, obwohl sie niemals richtig daran teilnahm. Für sie bedeuteten die Kinder Angst und Sorge und eine Liebe, so groß, dass sie ab und zu drohte, sie selbst und die anderen zu ersticken.
    Es konnte einfach nicht stimmen.
    »Da musste ja eine Reaktion kommen«, sagte die Mutter tröstend und schob ihr einen Eiswürfel zwischen die Lippen. »Nach so einem grauenhaften Tag. Lutsch am Eis und putz dir dann die Zähne. Das fühlt sich frisch und gut an. Bist du fertig? Dann kann ich hier sauber machen, wenn du nur ...«
    »Nein, Mama, das mach ich selbst.«
    Ihre alte Mutter hätte sie beiseitegeschoben und sich das Recht, das Badezimmer zu putzen, erzwungen. Die neue Mutter, diese Frau, die Inger Johanne noch immer nicht richtig kennengelernt hatte, trat einen Schritt zurück, strich sich kurz über die Haare und sagte ruhig: »Ich habe für dich und deine Schwester schlimmere Dinge weggewischt. Und auch für die Enkelkinder. Aber ich will mich natürlich nicht aufdrängen. Das Angebot besteht, falls du es dir anders überlegst.«
    Dann dieses Lächeln, dieses fremde,
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