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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund
Autoren: Elisabeth Herrmann
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gesessen haben musste. Eines Tages würde diese Einsamkeit in ihr verschwinden. Wenigstens das wusste sie. Es war der Morgen des sechsten Dezembers – ihr Geburtstag. Die Frist war abgelaufen. Sie hatte Schattengrund verloren.
    Die Jubelrufe und das Brummen der Motoren wurden leiser, je weiter sie sich von Siebenlehen entfernten. Nico blieb stehen und betrachtete das Haus, das am Ende der Straße lag. Ein bisschen weit weg von den anderen, ein bisschen über den anderen. Und trotzdem Teil von allem, im Guten wie im Bösen.
    »Nico!«
    Der Schrei ließ sie herumfahren. Suchend blickte sie hinunter zur Kreuzung, wo sich immer mehr Menschen versammelten. Ein gewaltiger Bagger mit der Schneeschaufel bog um die Ecke. Blaulicht zuckte über die Hauswände. Ein Krankenwagen und ein Einsatzfahrzeug der Polizei schoben sich im Schritttempo hinter dem Bagger ins Dorf, ein gutes Dutzend Autos und Geländewagen rollte hinterher. Sie mussten aus Altenbrunn gekommen sein und sich direkt hinter dem gewaltigen Räumgerät eingereiht haben. Manche standen mit offenen Wagentüren mitten auf der Straße, Menschen fielen sich in die Arme. Eine Gestalt kam auf die Kreuzung gerannt. Nicos Herz machte einen Satz.
    »Nico?«
    »Mama!«
    Sie befreite sich mit einem entschuldigenden Lächeln aus Leons Umarmung und lief los.
    »Mama!«
    Stefanie kam keuchend und mit ausgebreiteten Armen zu ihr hochgerannt. In ihrem dicken Daunenmantel und den Winterboots sah sie aus wie ein Michelin-Männchen. Nico flog in sie hinein, so heftig, dass ihre Mutter beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und sie um ein Haar alle beide im Schnee gelandet wären.
    »Nico, mein Schatz. Ist alles okay? Ich hatte solche Angst um dich. Was machst du denn für Sachen? Du kannst doch nicht einfach abhauen! Wir sind fast gestorben! Ist dir auch nichts passiert? Wo hast du eigentlich gesteckt die ganze Zeit?«
    Stefanie küsste ihre Tochter atemlos zwischen den Sätzen ab. Schließlich hielt sie inne. »Ich glaube, du hast mir eine Menge zu erzählen.«
    »Ja«, sagte Nico. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie der Krankenwagen von der Kreuzung abbog und mit rasselnden Schneeketten auf sie zufuhr. Das Fahrerfenster glitt hinunter.
    »Schattengrund?«, brüllte ein Mann in weißem Kittel.
    »Da!« Nico deutete auf Kianas Haus. Der Motor des Wagens brüllte auf, Schnee stob in einer Fontäne in die Luft. Ihre Mutter starrte erst dem Auto hinterher, dann nahm sie Nico ins Visier.
    »Was ist passiert?«, fragte sie in genau dem scharfen Ton, den Erwachsene Minderjährigen gegenüber anzuschlagen pflegen. Nico unterließ es, sie darauf hinzuweisen, dass sie seit – sie sah auf Leons Armbanduhr – fast sieben Stunden volljährig war.
    »Das erzähle ich dir später. In aller Ruhe.« Leon kam zu ihnen. Er war nervös. Nicos Herz machte einen Sprung. Ein merkwürdiger, aufregender Moment, und sie hoffte, sie würde die richtigen Worte finden. »Ich möchte dir übrigens jemanden vorstellen, den ich hier kennengelernt habe. Leon Urban. Seiner Familie gehört der Schwarze Hirsch.«
    »Ah. Ja.« Stefanie klang immer noch überrascht, aber nicht mehr ganz so kühl. Sie sah zerstreut an Nico vorbei zu Schattengrund. Maik, der sanfte Riese mit dem zerschmetterten Gesicht, taumelte gerade durch den Vorgarten, gestützt von zwei Sanitätern. »Und wer ist der Mann, den sie da gerade aus dem Haus holen und der aussieht, als wäre er zwischen zwei Pitbulls geraten?«
    »Später«, wiederholte Nico verzweifelt. Gerade bog der Polizeiwagen mit Blaulicht ab und parkte direkt vorm Schwarzen Hirschen. Zach kam heraus, begleitet vom Pfarrer. Nico glaubte, das Klicken der Handschellen bis zu ihnen hinauf zu hören. Verwirrt deutete ihre Mutter auf das zweite, nicht minder interessante Szenario.
    »Und … Ich verwechsle doch wohl nichts – das ist eine Festnahme? Im Schwarzen Hirschen? Also … in Ihrem Haus?«
    »Äh, ja«, sagte Leon. Er und Nico wechselten einen kurzen Blick. »Auch das würde ich gerne später, also, … in aller Ausführlichkeit …«
    »Schon gut.« Stefanie legte den Arm um Nicos Schulter, um klarzumachen, wer hier die Erklärungshoheit besaß.
    »Ich glaube, ich muss erst mal ein paar Stunden schlafen«, säuselte das erschöpfte Töchterchen. Es war schön, dass ihre Mutter da war. Andererseits hätte sie sie in diesem Moment am liebsten in einen Schneemann verwandelt. Sie wollte mit Leon alleine sein. Wenigstens in diesen letzten kostbaren Minuten.
    »Wir müssen
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