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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold
Autoren: Dieter Buehrig
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aus seiner Lektüre, genau vor Krolls Füße.
    »Entschuldigen Sie, ich glaube, Sie haben etwas verloren.«
    Der Fremde drehte sich irritiert um und lächelte den Inspektor dankbar an.
    »Oh, vielen Dank, sehr aufmerksam. Ein wichtiges Dokument. Wäre schade gewesen, wenn ich es verloren hätte.« Er steckte den Brief wieder in sein Buch. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
    Der Inspektor nickte unmerklich, obwohl ihm die Bitte gar nicht so recht war. Schließlich wollte er in Ruhe nachdenken. Er rutschte ein Stückchen zur Seite.
    Der Mann nahm Platz. Kroll musterte ihn aus den Augenwinkeln heraus in gekonnter Polizeimanier: Mittelgroße Statur. Gepflegte Kleidung. Grauer Havelock-Mantel, dunkelgraue Nadelstreifenhose, dunkler Stetson-Hut, perfekt geputzte Budapester Herrenschuhe, dunkelbraune Lederhandschuhe. Sonnenbrille mit breiter schwarzer Fassung. Alter: Mitte 50. Gesamteindruck: Wohlhabendes Bürgertum.
    Vom Gesicht war nur wenig zu erkennen. Die energische Kinnpartie steckte ansatzweise in dem dunkelblauen Wollschal, den sich der Fremde umgebunden hatte, als er den kalten Innenhof betrat. Das Wenige, das man von seiner Haut sah, ließ auf einen dunkelhäutigen, südländischen Typ schließen. Obwohl Brille und Hut nur wenig Platz für eine ausgiebige Betrachtung freigaben, vermutete der Inspektor die Existenz einer hohen Stirn, umrahmt von einem soliden, hausbackenen Kurzhaarschnitt.
    »Interessant, dieser Merkur. – Finden Sie nicht auch?« Kroll gab lediglich ein anerkennendes Räuspern von sich.
    »Wussten Sie, dass Merkur ein Gott in der römischen Religion war, der Götterbote, der Gott der Händler und Diebe?« Kroll war das nur oberflächlich bekannt. Außerdem interessierte es ihn nicht.
    »In meinem Museumsführer steht, dass er früher auf der Puppenbrücke gestanden haben soll, mit dem Hinterteil zu den feindlichen Nachbarn gewandt. – Charmant, meinen Sie nicht auch?« Kroll hörte schon gar nicht mehr hin.
    »Man könnte seine Haltung auch anders deuten: Wenn er seinen Rücken den Fremden zukehrt, verbeugt er sich vor den Einheimischen. Der Gott der Diebe huldigt den Bürgern von Lübeck. – Stellen Sie sich das mal bildlich vor!«
    »Ja, ja, in der Tat merkwürdig.« Krolls Berufsinteresse war nur mäßig erwacht.
    »Ich lebe zwar nicht lange in der Stadt, aber von Diebstählen habe ich noch nie etwas gehört. Höchstens mal ein kleiner Ladendiebstahl, aber doch kein Kapitalverbrechen …«
    Kroll hätte jetzt lange Vorträge halten können. Aber irgendetwas in seinem Inneren signalisierte ihm, einem Fremden gegenüber keine Berufsgeheimnisse auszuplaudern.
    Eine längere Pause des Schweigens entstand. Dann ergriff der Unbekannte wieder das Wort.
    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie mir verraten, an welchem Wochentag Sie geboren wurden?«
    Verwundert antwortete Kroll: »An einem Sonntag.«
    »Dann sind Sie ein Glückskind, denn der Sonntag ist der Tag der Weißhaarigen. Sie werden wegen ihrer Weisheit hoch geehrt und sind beruflich sehr erfolgreich. Das trifft doch wohl auch für Sie zu, nicht wahr?«
    Meint er diesen Quatsch wirklich ernst oder will er sich über meine spärlichen Haare lustig machen?, brütete der Inspektor. Schließlich schätzte er seine beruflichen Leistungen ziemlich realistisch ein. Kaum hörbar grummelte er vor sich hin: »Na ja.«
    Sein Gesprächspartner schien das als Zustimmung zu werten und fuhr fort: »Sehen Sie! Die Gesetze der Alten stimmen. Ich beispielsweise wurde an einem Donnerstag geboren. Das ist der Tag der Soldaten. Im übertragenen Sinne bin auch ich ein Streiter. Ich kämpfe für Ordnung und Gerechtigkeit auf Erden.«
    Dann bist du entweder Priester oder Rechtsanwalt, vermutete Kroll. Aber weil er darauf nichts zu antworten wusste, entstand wieder eine kurze Phase des Schweigens. Dann legte der Fremde sein Buch zwischen sich und dem Inspektor auf die Bank, lehnte sich vor und blickte in die Runde.
    »Schön hier zwischen den alten Klostermauern. Man fühlt sich in dieser Einsamkeit wie ein Mönch, der auf der Suche nach der göttlichen Wahrheit ist. – Wahrheit, was ist das schon? Ist das die Erkenntnis der Wirklichkeit, das Deuten von Tatsachen? – Irgendjemand schrieb einmal: ›Tatsachen sind die Feinde der Wahrheit‹. Ein weiser Ausspruch, finden Sie nicht auch?«
    Kroll begann, unruhig auf der Bank hin und her zu rutschen. Was wollte dieser Fremde mit seinem Gerede bezwecken? Ahnte er, dass er hier saß, um die Wahrheit über einen
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