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Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume
Autoren: Karin Slaughter
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was sie tun sollte. Fortziehen, wahrscheinlich. Vielleicht war in Alaska noch eine Stelle frei.
    Zu Ethan sagte sie: «Ich komme heute Abend wahrscheinlich spät nach Hause.»
    «Macht nichts», sagte er. Die Aussicht, sie später vielleicht noch zu sehen, besänftigte ihn. «Komm einfach bei mir vorbei.»
    «Dein Wohnheim stinkt nach Kotze und Pisse.»
    «Dann komme ich bei dir vorbei.»
    «Super Idee. Mit der lesbischen Geliebten meiner toten Schwester nebenan? Nein, danke.»
    «Ach, komm schon, Baby. Ich will dich sehen.»
    «Ich weiß aber nicht, wie spät es wird», sagte sie. «Und dann bin ich wahrscheinlich müde.»
    «Wir können einfach schlafen», schlug er vor. «Ist mir egal. Ich will dich sehen.»
    Seine Stimme war jetzt sanft, doch Lena wusste, wenn sie ihn abwies, würde er böse werden. Ethan war erst dreiundzwanzig, fast zehn Jahre jünger als sie, und er hatte noch nicht begriffen, dass eine Nacht in getrennten Betten nicht das Ende der Beziehung bedeutete. Obwohl sich Lena manchmal wünschte, sie könnte sich einfach wieder von ihm trennen. Vielleicht schaffte sie es jetzt, wo sie wieder in ihrem Beruf arbeitete und sich mit anspruchsvolleren Fragen beschäftigte als mit dem täglichen Fernsehprogramm.
    «Lena?», gurrte Ethan, als ahnte er, was ihr durch den Kopf ging. «Ich liebe dich, Baby. Komm heute Abend zu mir. Ich koche was und besorge eine Flasche Wein   …»
    «Ich habe meine Tage nicht bekommen.»
    Er schnappte nach Luft, und sie bedauerte, dass sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.
    «Das ist nicht lustig.»
    «Meinst du, ich mache Witze?», fragte sie. «Ich bin drei Wochen überfällig.»
    Er schwieg, dann sagte er: «Das kann auch vom Stress kommen, oder?»
    «Oder vom Sperma.»
    Er schwieg, sein Atmen war das einzige Geräusch in der Leitung.
    Sie brachte ein künstliches Lachen zustande. «Na, liebst du mich immer noch,
Baby

    Seine Stimme klang kühl und beherrscht. «Hör auf, so zu reden.»
    «Pass auf», sagte sie, sie bereute, dass sie es überhaupt erwähnt hatte. «Keine Sorge, okay? Ich kümmere mich drum.»
    «Was soll das heißen?»
    «Es heißt, was es heißt, Ethan. Wenn ich   …» Sie brachte nicht einmal das Wort über die Lippen. «Wenn was passiert ist, kümmere ich mich drum.»
    «Du kannst doch nicht   –»
    Das Telefon piepte, und Lena war noch nie so dankbar für die Anklopffunktion gewesen. «Ich muss drangehen. Wir sehen uns.» Sie schaltete auf den anderen Anruf um, bevor Ethan noch etwas sagen konnte.
    «Lee?», fragte eine tiefe Stimme. Lena unterdrückte einen Seufzer. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, Ethan an der Strippe zu behalten.
    «Hallo, Hank.»
    «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schätzchen!»
    Unwillkürlich musste sie lächeln.
    «Hast du meinen Brief bekommen?»
    «Ja», sagte sie zu ihrem Onkel. «Vielen Dank.»
    «Hast du dir was Hübsches davon gekauft?»
    «Ja», wiederholte Lena und zupfte das Jackett zurecht. Hanks zweihundert Dollar wären besser in Lebensmitteln oder in einer Autoversicherung angelegt gewesen, doch ausnahmsweise hatte Lena sich etwas gegönnt. Heute war ein wichtiger Tag. Sie war wieder Cop.
    Jetzt klingelte ihr Handy, und sie sah auf dem Display, dass es Ethan war, der vom Handy aus anrief. Auf dem Festnetz hing er immer noch in der Warteschleife.
    Hank fragte: «Musst du da rangehen?»
    «Nein», erklärte sie und drückte auf «Anruf abweisen». Während Hank ihr die alte Geburtstagsgeschichte erzählte, von dem Tag, als Lena und ihre Zwillingsschwester Sibyl bei ihm einzogen und dass es der glücklichste Tag seines Lebens gewesen sei, verließ Lena ihr Zimmer und lief den Flur hinunter. Im Bad sah sie sich noch einmal im Spiegel an. Sie hatte Ringe unter den Augen, doch das würde sich mit ein wenig Make-up beheben lassen. Nur den violetten Riss in der Unterlippe konnte sie nicht kaschieren, wo sie zu fest draufgebissen hatte.
    Am Spiegel hing ein Foto von Sibyl. Es war ungefähr einen Monat vor ihrem Tod aufgenommen geworden, und auch wenn Lena das Bild am liebsten abgenommen hätte – dies war nicht ihr Haus. Wie jeden Morgen verglich Lena das Foto ihrer Zwillingsschwester mit ihrem Spiegelbild, und es gefiel ihr nicht, was sie sah. Als Sibyl starb, hatten sie sich zum Verwechseln ähnlich gesehen. Jetzt waren Lenas Wangen eingefallen, und ihr Haar war nicht mehr so dick und glänzend. Sie sah viel älter aus als dreiunddreißig,und mehr als an allem anderen lag das an der
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