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Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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in Oxford, wo ich sie sicher und gut aufgehoben wähnte – weit weg von den Bomben, der TB und der Gewissheit, dass ihre Mutter bald sterben würde.«
    Alan Barnes blickte Kate direkt in die Augen. »Alles, was dann geschah, können Sie in meinem Manuskript nachlesen.«
    »Und was geschah mit Sheila?«, fragte Kate sanft.
    »Sie ist gestorben. Bis Juni hielt sie noch durch, dann war es vorbei. Der Arzt sagte, dass sie letztendlich an Herzversagen starb. Es war nicht wie bei mir – ich habe mein Leben gelebt und sterbe alt. Sheila aber war erst einunddreißig. Kein Alter zum Sterben, nicht wahr?«
    »Nein. Es ist viel zu jung.«
    »Wissen Sie, was schrecklich ist? Nachdem sie gestorben war, fühlte ich mich erleichtert. Natürlich habe ich sie vermisst, und ich hatte wieder ein wichtiges Bindeglied zu Harry verloren. Aber zum ersten Mal seit Beginn des Krieges fühlte ich mich frei. Im Lauf der Jahre hatte ich ein paar schlechte Angewohnheiten angenommen, die mich der Gesellschaft entfremdeten. Ich aß gern am Küchentisch, und zwar am liebsten nackt. Ich wusch mich lieber unter dem kalten Wasserhahn, als die Dusche zu benutzen. Und ich wanderte nachts in den Straßen umher, anstatt mich in meinem Zimmer einzuschließen.
    Ich hatte ein paar Freunde, die das Gleiche durchgemacht hatten wie ich. Wir zogen durch die Kneipen und betranken uns, wann es uns gerade passte, und niemand meckerte, wenn ich nach Hause kam.«
    »Was ist aus Susie geworden?«, fragte Kate. »Jemand hat mir erzählt, dass sie nach London zurückkehrte, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Aber niemand weiß, was dann geschah.«
    »Susie war mindestens ebenso ein Kriegsopfer wie Harry oder ich. Ich konnte mich nicht gleichzeitig um sie und um Sheila kümmern, als sie aus Oxford zurückkehrte. Also gab ich sie für die letzten Monate in die Obhut von Pflegeeltern. Es waren wirklich nette Leute, die nicht nur auf Geld aus waren. Ich bin sicher, dass sie ihr Bestes für das Kind gaben. Sie waren Verwandte unserer Nachbarn und wohnten draußen Richtung Blackheath. Nach Sheilas Tod erschien es mir sinnvoll, Susie dort zu lassen. Für ein kleines Mädchen wäre es nichts gewesen, bei einem Junggesellen wie mir zu leben.
    Aber sie hat mir nie verziehen. Seit sie fünfzehn oder sechzehn war, suchte sie ständig nach Männern, die ihr die Liebe schenken sollten, die sie ihr Leben lang vermisst hatte. Man konnte es in ihren Augen erkennen. Sie warf mir etwas vor; vielleicht nahm sie mir auch übel, dass ich ihr etwas nicht gegeben hatte, was sie von mir erwartete. Und so suchte sie sich das, was sie zu brauchen glaubte, eben woanders. Heute bezeichnet man solche Mädchen als frühreif, aber es gibt auch andere Namen dafür, die ich lieber nicht aussprechen möchte.
    Sie heiratete mit etwa neunzehn Jahren. Er war Kanadier, und sie zogen nach Toronto. Ich nehme an, sie erwartete ein Märchen, doch das funktioniert nie. Ich schrieb ihr regelmäßig zu Weihnachten, bekam aber nicht immer eine Antwort.
    Eines Tages bekam ich einen kurzen Brief mit der Mitteilung, dass sie gestorben war. Sie muss etwa siebenundzwanzig gewesen sein. Sogar noch jünger als ihre Mutter.«
    »Wie ist es passiert?«
    »Sie fuhr als Sozia bei irgendeinem Rabauken auf dem Motorrad mit. Er war natürlich nicht ihr Ehemann. Sie trug keinen Helm, und als er von der Straße abkam, hatte sie nicht die geringste Chance.
    Ich glaube nicht, dass sie glücklich war. Auch nicht in Kanada. Vielleicht wäre sie anders geworden, wenn sie von ihren Eltern erzogen worden wäre. Vielleicht aber auch nicht. Christophers Charakterstärke hat sie nie besessen. Mir kam es immer so vor, als müsse man ihr versichern, dass auch sie ein Recht zu leben hätte. Arme Kleine!«
    »Soll ich uns noch einen Tee machen?«, fragte Kate. »Sie sind doch jetzt sicher durstig.«
    »Ja, brühen Sie noch eine Kanne auf. Sie kennen sich ja inzwischen aus.«
    Als sie mit dem Tee zurückkehrte, sah sie, dass Alan das bereits erwähnte Manuskript geholt hatte. Sie schenkte ein und bot Alan einen Keks aus einer Packung an, die sie in der Küche gefunden hatte. Als sie beide wieder saßen, schob er ihr die Aufzeichnungen zu.
    »Hier, nehmen Sie es mit«, sagte er.
    Kate blickte ihn fragend an. Der dicke Wälzer lag zwischen ihnen auf dem Tisch. Er war schwarz mit einer roten Spiralbindung.
    »Es ist ein Tagebuch«, klärte er sie auf. »Allerdings berichtet es weniger von Zahnarztbesuchen als vielmehr von meinen
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