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Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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die Ehe gut. Sie hatten sehr wenig Geld und hausten in den ersten Jahren in Wohnungen, die man eigentlich nur als Löcher bezeichnen konnte. In den Bädern wuchs der Schwarzschimmel so groß wie Wiesenchampignons, und an den Wänden lief Kondenswasser hinunter – sicher verstehen Sie, um welche Art Wohnungen es sich handelte.
    In Sheilas Familie gab es bereits Schwindsucht. Eine Schwester war daran gestorben. In armen Familien kam die Krankheit damals häufig vor. Gott sei Dank hat sich das heute geändert. Auch Sheila begann Symptome zu zeigen, doch richtig schlimm wurde es erst nach dem zweiten Kind. Sie hätten eigentlich keine Familie gründen dürfen, doch Sheila fand, dass Kinder ein Gottesgeschenk waren und man nichts dagegen unternehmen durfte. Ich nehme an, dass Harry sie nach Susies Geburt zur Vernunft gebracht hat.
    Und dann fing der Krieg an. Susie war kaum dem Kinderwagen entwachsen. Harry und ich meldeten uns sofort zum Militär. Es fällt mir schwer, so etwas über meinen eigenen Bruder zu sagen, aber ich glaube, er war ganz froh, der ständigen Husterei und der Krankenzimmeratmosphäre zu entkommen. Für einen so jungen Mann war die Verantwortung vielleicht zu groß.
    Harry zog in den Krieg hinaus – so nannte er es –, ehe ich es tat. Er wurde nach Frankreich geschickt und kam nie zurück. Offiziell nannte man das ›Vermisst, vermutlich gefallen‹, aber mir war klar, dass er tot war. Wir standen uns sehr nah, mein Bruder und ich. Ich hätte es gespürt, wenn er noch am Leben gewesen wäre.
    Sheila wollte um keinen Preis aus der Wohnung in der Reckitt Street ausziehen, wo sie mit Harry gewohnt hatte. Ich glaube, sie bildete sich immer noch ein, dass er eines Tages völlig überraschend an der Hintertür klopfen würde. Jedenfalls wollte sie zu Hause sein, wenn es passierte, und sich nicht irgendwo auf dem Land vor den Bomben verstecken.
    Sie blieb also während der Bombardements mit den Kindern in London. Bis zum Sommer 1944. Wir wussten alle, dass der Krieg bald zu Ende sein würde. Nachdem die Amerikaner eingegriffen hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit. Plötzlich verschlimmerte sich Sheilas Krankheit wieder. Tuberkulose ist nun einmal so. Manchmal ging es meiner Schwägerin monatelang gut oder wenigstens einigermaßen gut, und dann kam mit einem Mal wieder ein Schub. Sie konnte die Kinder nicht mehr versorgen und wollte auch nicht, dass die beiden sahen wie schlecht es ihr ging. Für die Kinder war es ohnehin schrecklich genug – das weiß ich genau.
    Von Schwindsucht oder TB hört man heutzutage so gut wie nichts mehr, doch damals war sie tödlich. Mit der entsprechenden Pflege und Erholungsreisen an die See oder in die Schweiz hätte Sheila vielleicht überleben können. Doch wir konnten nur die Fenster Tag und Nacht weit öffnen und versuchen, Sheila von unseren Lebensmittelkarten so gut wie eben möglich zu ernähren.
    Sie starb jeden Tag ein bisschen mehr. Es war ihr so wichtig, dass die Kinder nicht zusehen mussten, wie es ihr von Tag zu Tag schlechter ging. Zwar sehnte sie sich danach, die Kleinen in ihrer Nähe zu haben, doch sie verzichtete darauf. Sie hat sie übrigens auch kein einziges Mal in Oxford besucht. Damals glaubte man noch, Kinder vor den Realitäten des Lebens schützen zu müssen. Obwohl die Kinder natürlich trotzdem alles erfuhren und es sich vielleicht noch viel schlimmer vorstellten, als es in Wirklichkeit war. Oder sie hatten das Gefühl, an allem schuld zu sein. Jedenfalls verheimlichten wir den Kindern Sheilas Krankheit, weil es einfacher für uns war. Und mit der Begründung, dass es zu ihrem Besten wäre, betrogen wir uns selbst.
    Ich war natürlich ebenfalls im Krieg gewesen. In Nordafrika geriet ich in Gefangenschaft. Ich will Sie nicht mit der ganzen Geschichte langweilen, aber schließlich landete ich in einem Gefangenenlager in Norditalien. Und eines Tages waren wir plötzlich frei. Die Wachmannschaft hatte sich aus dem Staub gemacht. Tausende alliierte Gefangene irrten umher und versuchten, auf die Gebiete der Alliierten zurückzukehren.
    Wir hatten weder zu essen noch irgendwelche Transportmöglichkeiten, mussten aber über die Berge in Richtung Süden. Tut mir leid, Sie müssen mich bitte einen Augenblick entschuldigen.
    Wo war ich? Ach ja, irgendwann kehrte ich zurück nach England. Ich litt unter ständigem Hunger, den keine Nahrung je befriedigen konnte, und konnte nachts wegen meiner Albträume nicht schlafen.
    Und so ließ ich Harrys Kinder
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