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Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)

Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)

Titel: Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
Autoren: Maria Norda
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einer anderen Zeit.
    Suchend blickte ich umher und
versuchte die Augen in der dunklen Masse ausfindig zu machen. Aber sie waren
nicht da. Er war nicht da.
    Das hier war der gleiche Ort. Er
mochte jetzt vielleicht einen anderen Namen tragen, der Besitzer hatte
vielleicht gewechselt und die Einrichtung ausgetauscht, aber es war der gleiche
Ort. Schon einmal war ich hier gewesen, vor fünf Jahren – als ich Robert das
erste Mal gesehen hatte, als wir uns kennen lernten.
    Etwas Nasses, eine Träne, rann mir
die Wange entlang. Das alles tat so weh, war wie ein Schlag, wie ein Kampf, den
ich nur verlieren konnte. Und ich würde sterben.
    Ich hatte bereits eingesetzt zu
singen, natürlich wie ein Atemzug und ich spürte die Vibrationen in meinem
Hals. Alles passierte ohne mein Zutun, ganz automatisch und ich hörte wie auch
Menschen im Publikum begannen zu weinen. Das alles musste für sie sehr überzeugend
ausgesehen haben. Wie sollten sie auch ahnen, dass ich im Augenblick vor
Schmerz zerfiel. Sah denn keiner, welche Leere mich aufzufressen drohte?
Bemerkte denn niemand, dass ich in der nächsten Sekunde schon tot auf dem Boden
aufschlagen würde?
    Keiner von ihnen wusste es. Keiner
vor ihnen war an diesem Herbsttag vor fünf Jahren hier gewesen. Keiner hatte
miterlebt, wie wir unseren ersten Moment zelebrierten hatten.
    Keiner bis auf einen – Michael.
    Er wusste es. Er wusste, dass es
genau diese Bar gewesen war, in der wir uns kennen gelernt hatten. Er wusste,
dass dies der erste Abend war, an dem ich mit Robert gesprochen hatte. Er
wusste, dass diese Nacht mein Schicksal mit ihm besiegelt hatte.
    Warum nur tat er mir das an?
    Lied um Lied kam mir über die Lippen.
Wir hatten nur ein kleines Programm zusammengestellt, ein bisschen mehr als
eine halbe Stunde und der Spuk war vorbei. Das Publikum war trotzdem komplett
aus dem Häuschen. Wie könnten sie auch nicht, wo doch die Sängerin
augenscheinlich so viel bei den Songs fühlte, dass sie auf der Bühne zu weinen
begann. Wenn sie nur wüssten.
    Es grenzte förmlich an ein Wunder,
das ich bei unserer Verbeugung noch aufrecht stehen konnte. Michael wollte
meine Hand ergreifen, doch ich trat schnell einen Schritt beiseite und würdigte
ihn keines Blickes. Warum nur hatte er mir das angetan?
    Nachdem auch die letzten Rufe einer
Zugabe verklungen waren, ging ich zu einem der Tische, an denen meine Liebsten
Platz genommen hatten. Natascha und Alexander, Jessica und Christoph. Als ich
an ihrem Tisch kam, standen sie geschlossen auf und applaudierten von neuem.
Jeder nahm mich herzlich in die Arme bis ich schließlich in denen von Jessica
ruhte.
    »War es sehr schlimm?«, flüsterte sie
und sah mich besorgt an. Ich hatte vielleicht den anderen etwas vormachen
können, aber nicht ihr. Sie wusste oder ahnte zumindest, was in mir vorging und
hielt mich fest in ihren Armen.
    Ich nickte, mehr konnte ich nicht.
Während das Singen selbst bei größtem Schmerz eine Selbstverständlichkeit war, Sprechen
war es nicht und ich brachte kein Wort über die Lippen. Zu war die Angst davor,
direkt vor ihren Augen in Tränen zu zerfließen.
    »Es tut mir leid Emilia«, meldete
sich Natascha zu Wort und hielt beschützend die Hand auf ihrem Bauch. »Aber der
kleine Racker scheint nach Hause zu wollen. Wir werden dann mal aufbrechen.«
    Sofort hatte Jessica mich wieder
fixiert. »Sollen wir noch bleiben?« Sie hätte es sofort getan. Sie wäre für
mich durchs Feuer gegangen, aber diesen Brand musste ich selbst löschen. Und es
würde ein Feuerwerk geben, dessen war ich mir sicher.
    »Nein, geht ruhig«, entgegnete ich
und küsste sie auf die Wange.
    »Sei nicht zu hart mit ihm«,
versuchte sie meinen aufkeimenden Kampfeswillen zu ersticken.
    »Er bekommt das, was er verdient hat«,
erwiderte ich und verabschiedete mich in Richtung Umkleide.
    Sie war leer. An der Wand hatte der
neue Besitzer einen dieser typischen Schminkspiegel angebracht, bei dem runde
Glühbirnen das komplette Gesicht ausleuchteten. Als ich hinein blickte, sah ich
eine gebrochene Frau, die Augen gerötet, der Blick leer. Die Freude, die ich in
den letzten Wochen erlebt hatte, war gänzlich getilgt, als hätte es sie nie
gegeben oder wäre jemand anderem widerfahren.
    Gegenüber dem Spiegel hing ein großer
Kalender, an dem nur ein einziger Tag abgebildet war. Die Zahl brannte sich in
meine Netzhaut – es war nicht nur ungefähr fünf Jahre her, es waren genau fünf Jahre.
    »Alles Gute zum Jahrestag«, flüsterte
ich und
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