Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schalom

Titel: Schalom
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
du dich also.
    Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Mit wem sprichst du, Großmutter?«
    Lange schaute sie die schmale Gestalt an, die vor ihr stand, und obwohl ihr klar wurde, dass es nur Na’ama sein konnte, die sie Großmutter nannte, erkannte sie sie nicht wieder.
    »Na’amkale, Gott, wie groß du geworden bist!«, rief sie und breitete die Arme aus, um die Enkelin zu umarmen.
    Die warme Berührung gefiel ihr sehr. Sie drückte Na’ama fest an sich und küsste sie, und die Enkelin erwiderte die Umarmung. Konnte es sein, dass sie Brüste spürte? Ja, sie hatte sie lange nicht gesehen.
    Als Na’ama sich aufrichtete, erkannte sie, dass eine junge Frau vor ihr stand. »Ich hätte dich auf der Straße nicht wiedererkannt«, sagte sie.
    »Wie geht es dir, Großmutter?«
    »Wenn ich dich sehe, geht es mir großartig«, sagte sie, und das stimmte.
    Na’ama lächelte verlegen und hielt ihre Hand lange fest. Dann drehte sie sich zu den Stimmen um, die aus der Küche kamen, und sagte: »Ich will jetzt auch Jaki und Anna Guten Tag sagen.«
    »Jaki ist nicht da«, sagte sie. »Der ist mit deinem Vater zum Flughafen gefahren, um Guy abzuholen.«
    »Gut, dann nur Anna«, sagte sie und ging in die Küche.
    Sofort waren fröhliche und begeisterte Stimmen zu hören.
    Sie wandte den Blick zu Menachems Foto, aber Menachem schaute sie mit kalten Augen an und sagte nichts.
    Sag mir doch, was soll ich jetzt machen? Du hörst doch diese Freude, oder? Warum schweigst du? Das ist Na’amkale, unsere Enkeltochter, glaubst du, es wäre richtig, ihre Freude zu ignorieren? Glaubst du, ich kann mir die Ohren zuhalten? Glaubst du, ich soll das tun? Nun?
    Menachems Gesicht schaute sie an, aber er war nicht da, es war nur ein Foto.
    »Menachem«, sagte sie und erschrak vor ihrer Stimme.
    Verlegen schaute sie zur Küchentür hinüber, um sich zu vergewissern, dass niemand sie gehört hatte, und war froh zu hören, dass die Frauen in ihr Gespräch vertieft waren.
    Na’ama half ihnen vermutlich, denn sie kam nicht zu ihr zurück. Es tat ihr gut, dass man sie ein bisschen allein ließ.
    Zu Hause, wenn sie stundenlang allein war, ohne einen Menschen zu sehen und zu hören, sehnte sie sich manchmal nach einer menschlichen Stimme. Jetzt wurde ihr plötzlich klar, dass sie von dem Moment an, als sie Zilas Wohnung betreten hatte, keine paar Minuten allein gewesen war. War sie einfach nicht daran gewöhnt, so lange unter Menschen zu sein? Aber es waren ja nicht irgendwelche Menschen, sondern die, nach denen sie sich ständig sehnte.
    Sie schloss ihre Augen. Kam endlich die Müdigkeit, auf die sie wartete? Nein! Sie wollte nicht schlafen, nur die Augen schließen, eine Weile nichts sehen, und obwohl sie im Hintergrund die Stimmen aus der Küche hörte, konnte sie nicht verstehen, was gesagt wurde. Eine seltsame Ruhe senkte sich auf sie herab und besänftigte jede Erregung, wie früher, wenn Menachem seine warme Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Und plötzlich wurde ihr klar, dass er bei ihr war. Natürlich konnte sie ihn nicht sehen, aber sie zweifelte nicht daran, woher diese Ruhe kam. Obwohl sie die Augen nicht öffnete, schaute sie sich um. »Ich weiß, dass du hier bist, Menachem, versteck dich nicht vor mir, das wird dir nicht helfen.«
    Er antwortete nicht und sie konnte ihn nicht sehen, aber sie hörte das vertraute Räuspern.
    »Mache dir wegen des Jungen keine Sorgen«, sagte er plötzlich hinter ihr.
    Sie drehte sich zu ihm um, konnte ihn aber nicht entdecken.
    »Wo bist du, Menachem?«, sagte sie so leise, dass die Mädchen in der Küche sie nicht hörten. Sie sollten nicht denken, sie führe Selbstgespräche oder rede im Schlaf.
    Er antwortete nicht, aber seine Anwesenheit erfüllte den Raum.
    »Mach dir wegen des Jungen keine Sorgen«, hörte sie ihn noch einmal sagen. »Ihm ist nichts zugestoßen.«
    Was wollte er mit diesem Jungen, den er nicht einmal kannte?
    »Warum bist du so ein Quälgeist geworden, Menachem? Ich habe dir doch gesagt, dass ich mir keine Sorgen mache, ich weiß, dass ihm nichts passiert ist.«
    Menachem antwortete nicht, und sie fürchtete, ihn gekränkt zu haben. »Sei nicht eingeschnappt, Menachemke. Ich brauche dich jetzt.«
    Es waren nur die Stimmen aus der Küche zu hören, und plötzlich packte sie das Gefühl, man habe sie vergessen.
    »Menachem?«, rief sie und erschrak selbst vor ihrer lauten Stimme.
    Schnell schaute sie wieder zur Küche hinüber, um zu sehen, ob jemand sie gehört hatte. Zu ihrer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher