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Schäfers Qualen

Schäfers Qualen

Titel: Schäfers Qualen
Autoren: G Haderer
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er sich diesmal gegen das Auftauchen von Emotionen nicht wehren. Kitzbühel. Er sah aus dem Zugfenster und zwang sich, tief durchzuatmen. Wie konnte Kamp von ihm erwarten, eine ordentliche Ermittlung durchzuführen? In einem Ort und mit Leuten, denen er alles andere als neutral gegenüberstand. Andererseits hatte der Oberst auch wenig Ahnung von Schäfers Vergangenheit und seinen Verstrickungen. Da war zu viel passiert, das mit seinem jetzigen Beruf nicht konform ging. Dinge, die er verdrängte, so gut er konnte. Er klickte einen anderen Ordner auf dem Bildschirm an und betrachtete die Tatortbilder. Steiner hing an einem Gipfelkreuz. Mit den Armen am eisernen Querbalken festgebunden, in der Stirn ein klaffendes Loch, das karierte Hemd blutgetränkt. Schäfer schloss die Datei und wandte die Augen vom Bildschirm ab. Gekreuzigt. Ein Messer oder eine Axt hatten nicht genügt. Mehr als Hass, Eifersucht oder Habgier. Kalkül. Taten, die von langer Hand geplant sind und darüber hinausgehen, einen Menschen bloß abzuschaffen. Schäfer, der in zwei Jahren vierzig werden würde, hatte genug Tatorte gesehen, und neben der entsprechenden Fachliteratur hatten ihn nicht zuletzt auch Filme und Kriminalromane einiges über die Beweggründe von theatralischen Morden gelehrt. Was ihn beunruhigte, war weniger die Suche nach dem Täter – wie in den meisten Fällen ein akribisches Ausschlussverfahren und gewissenhafte Vernehmungen, bis man früher oder später nur mehr einen Verdächtigen übrig hatte. Das würde mit Bergmanns Hilfe und ein paar fähigen Beamten aus Innsbruck zu bewerkstelligen sein. Schäfer machte sich andere Sorgen: Wenn ein Mörder seine Taten dermaßen inszenierte, spielte er Gerechtigkeit. Und da es genügend Ungerechte gab, wäre ein zweites Verbrechen sehr wahrscheinlich.
    Schäfer sah aus dem Fenster. Die monochromen Fichtenwälder an den Berghängen, die träge wiederkäuenden Kühe, die wie Dekorelemente in den grünen Wiesen standen, ein Traktor, den ein offensichtlich in Trance versunkener Bauer über eine Schotterstraße steuerte, in deren Mitte büschelweise der Löwenzahn wuchs. Österreich: die Vorderseite einer Postkarte. Schäfers Telefon läutete. Der Postenkommandant aus Kitzbühel war dran: schöne Grüße vom Tod; es gab ein zweites Opfer – und Schäfer war nur erstaunt, dass es noch vor seiner Ankunft passiert war.

4
    Werden die Arbeitsbedingungen auf einer Baustelle aufgrund der Witterung unzumutbar – wenn es stark regnet, schneit oder zu kalt ist –, ruft der Polier eine Wetterschicht aus. Die Arbeiter begeben sich in ihren Container. Sie sitzen beisammen und machen Folgendes: Karten spielen, über Fußball reden, Magazine mit nackten Frauen ansehen, reichlich Zigaretten rauchen – auf Tauchfahrt in einem U-Boot würden sie sich wohl ähnlich verhalten. In beiden Fällen ist meist auch einer unter ihnen, der mit der Gruppe nicht konform geht. Vielleicht trägt er eine Brille. Oder er hält statt eines Pornomagazins ein Buch in Händen. Und es stört ihn, Details über die sexuellen Vorlieben seiner Freundin auszuplaudern. Er kann auch nur an die Decke starren und die Regentropfen auf das Blechdach des Containers trommeln beziehungsweise die Schiffsschrauben der feindlichen Zerstörer über ihm hören. In jedem Fall nimmt er für die Dauer seines Aufenthalts eine Sonderrolle ein. Und wenn er genauer darüber nachdächte, könnte er in seiner Sonderrolle zugleich auch die Ursache für seine Anwesenheit erkennen.
    So weit konnte Werner Senn an jenem frühen Morgen Anfang Juli nicht denken. Auf dem Weg zur Arbeit bemühte er sich, die Vorstellung der folgenden drei Monate loszuwerden, die er auf der Baustelle verbringen würde. Von denen er erst vier Tage abgeleistet hatte! Dumpfe acht Stunden mal wie viel Tage noch? Zudem gab ihm das Studium der deutschen Philologie und Politikwissenschaft noch lange nicht die Gewissheit, dass er in ein paar Jahren ein anständiges Gehalt verdienen würde. Lehrer kam nicht in Frage. Journalist, schon besser. Drehbuchschreiber, noch besser. Doch wo er längst damit beginnen hätte können, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln, beschränkte sich Senn darauf, von einem erfolgreichen Leben zu träumen. Er hatte keinen Plan. Und er brauchte Geld. Um sich abzulenken, redete er sich die Schönheit dieses frühen Sommermorgens ein: die frische Luft, die die Nacht noch um zwei, drei Stunden überdauern würde. Das hektische und schon
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