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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen
Autoren: Robert Silverberg
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Plastikscheibe ist und sein Herz ständig von einem elektrischen Schrittmacher angespornt wird; obwohl seine Nieren in fremden Körpern gewachsen sind, und seine Milz, die Hornhäute der Augen, Speiseröhre, Brustdrüse, Herzschlagader, Magen und – ja, er ist zweifellos menschlich, aber manchmal fällt es schwer, daran zu glauben. Und manchmal, wenn man in diese unwiderstehlichen, undurchdringlichen Augen blickt, sieht man nicht das göttliche Blitzen höchster Autorität, sondern etwas anderes, einen trüben Ausdruck von Müdigkeit oder vielleicht Überdruß, einen Ausdruck, der zugleich Todessehnsucht und Todesfurcht zu enthalten scheint. Dschingis Khan II. Mao ist von Todesgedanken geplagt, die er nur seinem Leibarzt anvertraut und das selten. Nach neun Jahrzehnten klammert er sich so verzweifelt ans Leben, daß er jede körperliche Qual auf sich zu nehmen bereit ist, um damit einen weiteren Monat, ein weiteres Jahr Lebenszeit zu erkaufen. Er lebt in einer schrecklichen Furcht vor dem Sterben, aber er ist gleichzeitig vom Tod fasziniert, besessen von der Vorstellung des Auslöschens, das er ständig vertagt. Schadrach hat ihn von der >Reinheit des Seins< sprechen hören. Vom Kommen des süßen Todes will er nichts wissen, gleichwohl genießt er die verlockende Süßigkeit des Gedankens daran noch im schaudernden Sichabwenden. Schadrach argwöhnt, daß nur ein solcher Mann den Wunsch verspüren kann, sich zum Herren über das zu machen, was aus dieser Welt geworden ist. Aber wie kann der alte Mann, wenn er träumerisch über der zarten Schönheit des Todes brütet, dieses unstillbare Verlangen nach ewigem Leben haben?
    »Kommen Sie um neun zu mir«, sagt der Vorsitzende.
    Schadrach nickt der erloschenen Mattscheibe zu.
     

3
    In der Zeit, die ihm noch bleibt, ehe er gehen und den Vorsitzenden abholen muß, entledigt sich Schadrach Mordechai einer seiner regelmäßigen bürokratischen Pflichten: er läßt sich von den Leitern der drei Forschungsprojekte Talos, Phönix und Avatara, die vom Vorsitzenden selbst ins Leben gerufen wurden – und in denen viele nur ein Indiz für die unausweichliche Hybris der Mächtigen sehen –, die täglichen Lageberichte geben. Als Leibarzt des Vorsitzenden hat Schadrach nominell die Oberleitung aller drei Projekte, und er konferiert allmorgendlich mit den Projektleitern, deren Laboratorien in einem niedrigeren Seitenflügel des Regierungspalastes untergebracht sind.
    Als erste erscheint Katja Lindman vom Projekt Talos auf der Mattscheibe. »Wir haben gestern die Augenlider kodiert«, erzählt sie ihm sofort. »Das ist einer der größten bisher gelungenen Schritte in unserem Umsetzungsprogramm von der Analogie zur Digitale. Damit haben wir sieben der rund dreihundert grundlegenden kinetischen Merkmale des Vorsitzenden vollständig aufgezeichnet und in Steuerimpulse umgesetzt.« Katja Lindman ist eine stämmig gebaute, üppige Schwedin von beängstigender Intelligenz, dunkelhaarig und cholerisch, eine Frau, die trotz oder wegen ihres dünnlippigen, spitzzahnigen Mundes, der ihr einen Ausdruck bedrohlicher Wildheit verleiht, auf Schadrach eine seltsame Anziehungskraft ausübt. Von den drei Projekten ist das ihrige am weitesten hergeholt, ein Versuch, einen mechanischen Dschingis Khan II. Mao zu entwickeln, eine analoge Einheit, durch die er nach seinem körperlichen Tod weiterregieren kann – eine Gliederpuppe, eine mechanische Nachahmung, die zugleich eine künstliche Fortsetzung seiner Persönlichkeit werden soll. Rein technisch bietet der Bau einer solchen Nachbildung keine unüberwindlichen Schwierigkeiten; das Problem besteht darin, etwas zu schaffen, was über die Walt Disney-Roboter hinausgeht, an die Schadrach sich aus seiner Jugend erinnert, die raffinierten, überraschend lebensechten Maschinen, die in ihren Hauttönungen und Bewegungen und Sprechweisen so verblüffend wirklichkeitsgetreu schienen. Disney-Maschinen sind im vorliegenden Fall nicht ausreichend. Ein Disney-Abraham Lincoln kann die Ansprache von Gettysburg achtmal in der Stunde fehlerlos aufsagen, würde aber niemals imstande sein, mit einer Delegation von Parteitagsabgeordneten aus aller Welt zu verhandeln oder vor dem Ministerrat die ideologischen Grundsätze und Leitbilder der praktischen Politik zu erläutern. Ein Vorsitzender aus Metall und Plastik könnte mit hypnotischer Beredsamkeit die alten Ansprachen wiederholen, aber viel Wert hätte das inmitten der Krisen einer im Umbruch befindlichen
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