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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang
Autoren: Anne Chaplet
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Magengrube geschlagen hätte.
     
    Will Bastian ging als erster. Der Weg vom »Dionysos« nach Hause war länger, seit er im Westend wohnte. Er fühlte die kühle Nachtluft auf seiner Stirn und freute sich einen unvorhergesehenen Moment lang auf den Frühling, nach dem es heute das erste Mal zu riechen schien.
    Vor dem Gyros-Imbiß an der Bockenheimer Warte standen sie Schlange, Jungen und Mädchen mit glatten Gesichtern, die Will geradezu unanständig jung vorkamen. Ihm machte der Geruch nach Hammelfleisch und Knoblauchsauce keinen Appetit mehr, und nach der Disco verlangte ihn auch nicht. Weiber aufreißen war eh nicht mehr angesagt, in seinem Alter, in dem man mit einem Fuß im Grabe stand.
    Marcus Saitz war, wenn er sich richtig erinnerte, gerade mal zwei Monate älter als er. So jung und schon tot. Von einer Minute auf die andere. Plötzlicher Herztod, hatte Che mit wichtiger Miene diagnostiziert. Das ist genetisches Schicksal, hatte Julius behauptet. Womit er wahrscheinlich vorsorglich behaupten wollte, daß weder Sport noch gesunde Lebensführung dieses Schicksal abwenden konnten.
    Tot ist tot, dachte Will. Was interessiert da noch das Warum und Weshalb? Er vermißte Marcus – er war der Netteste der ganzen Bande gewesen. Und Marcus hatte sie alle geliebt, völlig unverdienterweise – sie waren seine Familie gewesen, all die Jahre über. Er war der einzige von ihnen, der ganz und gar ohne Zynismus von Freundschaft sprach.
    Auf der Bockenheimer Landstraße war es ruhig. Will nahm die Abkürzung durchs nördliche Westend, vorbei am amerikanischen Konsulat. Am ehemaligen Konsulat. Er erinnerte sich nicht daran, die Siesmeyerstraße jemals ohne Stacheldrahtverhaue gesehen zu haben. Sie gehörten hier zum Stadtbild, genauso wie ein handlicher kleiner Wasserwerfer und gelangweilte Polizisten, die im Wagen warteten, daß etwas passierte – und nun waren die Amerikaner umgezogen, und die Szene überraschte mit ihrer Normalität. Fast vermißte er etwas.
    Gut, daß man nicht weiß, wie viele Jahre einem noch bleiben. Will fürchtete sich plötzlich mehr vor dem Alleinsein als vorm Sterben. Vor einem tristen, grauen, frauenlosen Leben in einer ungelüfteten Wohnung mit Pflegefall. Dann lieber tot sein.
    Die Hansaallee wirkte wie aus dem Museumsdorf im schummrigen Licht der Straßenlaternen, nur das Jugendstilhaus an der Ecke war hell angestrahlt. Will öffnete die Haustür mit einer seltsamen Mischung aus Erwartung und Melancholie. Seine neue Wohnung war die alte Wohnung – wer hätte das gedacht? Niemals hätte er sich früher vorstellen können, wieder in die Wohnung seiner Eltern zurückzukehren – woran man sieht, wie wenig Vorstellungsvermögen man hat, wenn man jung ist.
    Er war außer Atem, als er im 4. Stock ankam und fragte sich, wie sein Vater das schaffte, der mindestens einmal am Tag »an die frische Luft« mußte, um einzukaufen oder wenigem soldatisch-streng einen »strammen Marsch« zu absolvieren. Vor der Wohnungstür holte er tief Luft. Erst war es der falsche Schlüssel, den er ins Schloß zu stecken versuchte. Und dann ließ sich die Tür nur einen Spalt weit öffnen. Will spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Er lehnte sich gegen die Tür und drückte. Er rief, erst leise, dann lauter. Dann sah er den Schuh, Filz, schmutziggelbbraunes Karo, hinten an den Fersen abgetreten und abgenutzt, die Nähte schimmerten durch wie bloßgelegte Sehnen. Will stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür und zwängte sich hinein.
    Karl Bastian lag auf dem Boden, im Morgenmantel. Das Flurlicht war an, den alten Herrn mußte es auf dem Weg zur Toilette erwischt haben, wahrscheinlich halb im Traum. Friedlich sieht er aus, dachte Will, gerührt vom Anblick eines weißen Fußes, Greisenmarmor, blaugeädert und schmal. Er ließ seinen Blick nach oben gehen. Die linke Hand lag am Aufschlag des Hausmantels, die gekrümmten Finger weiß wie Gips. Und das Gesicht. Eine Totenmaske, dachte Will und schloß die Wohnungstür, bevor er sich neben seinen Vater kniete. Der gab ein schmatzendes Geräusch von sich und öffnete die Augen.
    »Hallo Willi«, flüsterte er.
    Will stieß den angehaltenen Atem aus und versuchte zu lächeln, obwohl er am liebsten »Wie kannst du mich bloß so erschrecken« geblafft hätte.
    »Was guckst du so?« Karl Bastian zog die Brauen zusammen und blickte dann an sich hinunter. »Und was ist hier eigentlich los?«
    »Du gehörst ins Bett.« Will faßte den Alten unter die Achseln und
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