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Sara Linton 01 - Tote Augen

Sara Linton 01 - Tote Augen

Titel: Sara Linton 01 - Tote Augen
Autoren: Karin Slaughter
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Diät, streng reglementierte Schlafperioden und straff durchorganisierte Spielzeiten einhielten, aber nur mit » gleichgesinnten Kindern, die dieselben Ziele hatten«.
    Soweit Judith das beurteilen konnte, hatten ihre Enkel nur ein einziges Ziel: immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie stellte sich vor, dass man nicht niesen konnte, ohne ein gleichgesinntes, egozentrisches Kind zu finden. In den Augen ihrer Schwiegertochter war das jedoch eine fast unlösbare Aufgabe. War das nicht der ganze Zweck der Jugend, egozentrisch zu sein? Und war es nicht Aufgabe der Eltern, einem das auszutreiben? Auf jeden Fall war es allen Beteiligten klar, dass es nicht Aufgabe der Großeltern war.
    Als der kleine Mark seinen nicht pasteurisierten Saft auf Henrys Hose geschüttet und Lilly so viele von den Hershey’s Kisses gegessen hatte, die sie in Judiths Handtasche gefunden hatte, dass sie Judith an eine Obdachlose erinnerte, die im letzten Monat im Heim so mit Metamphetaminen vollgepumpt war, dass sie sich in die Hose gemacht hatte, da hatten Henry und Judith nur gelächelt – sogar gekichert –, als wären das wunderbare, kleine Angewohnheiten, die die Kinder in Kürze ablegen würden.
    Doch das passierte eben nicht, und jetzt, da sie sieben und neun Jahre alt waren, verlor Judith allmählich den Glauben daran, dass sich ihre Enkel eines Tages zu höflichen und liebevollen jungen Erwachsenen entwickeln würden, die nicht den ständigen Drang verspürten, Erwachsenengespräche zu unterbrechen und durchs Haus zu rennen und so laut zu schreien, dass noch zwei Countys entfernt die Tiere anfingen zu jaulen. Judiths einziger Trost war, dass Tom jeden Sonntag mit ihnen in die Kirche ging. Sie wollte natürlich, dass ihre Enkel das Leben in Christus kennenlernten, aber wichtiger war ihr noch, dass sie die Lektionen lernten, die man ihnen in der Sonntagsschule beibrachte. Du sollst Mutter und Vater ehren. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Glaube nur ja nicht, du könntest dein Leben wegwerfen, die Schule abbrechen und zu Oma und Opa ziehen.
    » Hey!«, rief Henry, als ein entgegenkommendes Auto auf der Gegenfahrbahn so dicht an ihnen vorbeifuhr, dass der Buick richtiggehend schwankte. » Kinder«, murmelte er und packte das Lenkrad fester.
    Je näher Henry seinem Siebzigsten kam, umso mehr schien er sich in der Rolle des mürrischen, alten Mannes zu gefallen. Manchmal war das liebenswert. Zu anderen Zeiten fragte sich Judith, wie lange es noch dauern würde, bis er anfing, die Faust zu schütteln und alle Übel dieser Welt den » Kindern« in die Schuhe zu schieben. Das Alter dieser Kinder schien irgendwo im Bereich zwischen vier und vierzig zu liegen, und seine Verärgerung steigerte sich exponentiell, wenn er sie bei etwas ertappte, das er früher selbst getan hatte, jetzt aber nicht mehr genießen konnte. Judith graute vor dem Tag, da man ihm seinen Flugschein abnehmen würde, und dieser Tag würde eher früher als später kommen, da sein letzter Routinecheck beim Kardiologen einige Unregelmäßigkeiten ergeben hatte. Das war einer der Gründe, warum sie beschlossen hatten, den Ruhestand in Arizona zu verbringen, denn dort gab es keinen Schnee zu schaufeln und keinen Rasen zu mähen.
    Sie sagte: » Sieht nach Regen aus.«
    Henry hob den Kopf, um nach den Wolken zu schauen.
    » Wird ein guter Abend, um mit meinem Buch anzufangen.«
    Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Henry hatte ihr zum Hochzeitstag einen dicken historischen Liebesroman geschenkt. Judith hatte ihm eine neue Kühltasche geschenkt, die er auf den Golfplatz mitnehmen konnte.
    Mit halb zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Straße vor ihnen und beschloss, sich demnächst wieder einmal ihre Augen untersuchen zu lassen. Sie selbst war auch nicht mehr weit von den siebzig entfernt, und ihre Sehkraft schien mit jedem Jahr schlechter zu werden. Die Dämmerung war für sie eine besonders schlechte Zeit, und Objekte in größerer Entfernung sah sie nur noch verschwommen. Deshalb blinzelte sie mehrmals, bevor sie wirklich sicher war, was sie da sah, und sie öffnete erst den Mund, um Henry zu warnen, als das Tier direkt vor ihnen war.
    » Jude!«, schrie Henry, und sein rechter Arm legte sich quer über ihre Brust, während er das Lenkrad nach links riss, um dem armen Ding auszuweichen. Völlig unpassenderweise dachte Judith daran, wie recht die Filme doch hatten. Alles verlangsamte sich, die Zeit kroch dahin,
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