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Sankya

Sankya

Titel: Sankya
Autoren: Zakhar Prilepin
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aus und wucherte über den Weg.
    Inmitten dieses langsamen, beinahe vollendeten Zerfalls nahm sich das Kind merkwürdig aus, beschämend, deplatziert.
    »Saschenka …«, seufzte die Großmutter, als Sascha, die Zähne zusammenbeißend, um sich nicht umzudrehen und durch den Gemüsegarten zu fliehen, einen Schritt machte, die Tasche zu Boden stellte und der Großmutter die Hände entgegenstreckte.
    »Wie bist du denn hergekommen, ha?«, fragte sie. »Mit dem Auto, oder? Alleine?«
    Sascha antwortete, er sei allein und mit dem Auto gekommen, und sah dabei in das dunkle runde Gesicht der Großmutter und in ihre tränenden Augen.
    »Ich dachte schon, wieso kommt Sankya denn nicht«, sagte sie, und Sascha spürte einen leichten Vorwurf in ihrer Stimme. »Briefe schreibt er keine. Opa stirbt und Sascha wird es nicht einmal erfahren …«
    »Stirbt« sprach die Großmutter wie »stüabt« aus und das Wort klang deshalb auch viel hilfloser und endgültiger. In ihm war keine Härte – sondern nur Vergänglichkeit.
    Das Kind hob den Blick unabsichtlich zu Sascha, der die Großmutter umarmte und küsste, ihre weichen Schultern an sich drückte. Für das Kind war das vermutlich ebenso sonderbar, als hätte Sascha einen Baum oder die Ecke eines Schuppens umarmt.
    Sascha hob seine Tasche auf und stand unentschlossen da. Die Großmutter öffnete die Haustür.
    »Dem Opa geht’s ganz schlecht, wer weiß ob er den September noch erlebt … Er steht nicht auf, mag nichts essen, nur Wasser trinkt er«, sagte die Großmutter leise, und verließ den Ort des Geschehens.
    Sascha wollte nicht in die Hütte gehen, in der Großvater lag, und folgte der Großmutter in die Küche. Nach guter dörflicher Gewohnheit begann sie sofort zu kochen, ohne Fragen, die würden erst später kommen.
    In der Küche brannte eine schwache Lampe. Alles war voller Fliegen und als die Großmutter eintrat, flogen einige Fliegen lautlos auf. Nach ein paar Runden landeten sie wieder ruhig, waren satt und faul.
    Die Großmutter sprach leise über ihre Söhne. Sie hatte drei Söhne gehabt, Saschas Vater und zwei seiner Onkel, von denen einer Saschas Taufpate war. Alle waren gestorben.
    Als erster war der jüngste, Serjoscha, gestorben – er starb mit dem Motorrad, betrunken. Vor zwei Jahren im Sommer kam Saschas Taufpate Nikolaj bei einem Streit im Suff um. Er war der mittlere Sohn. Man begrub ihn neben dem jüngeren Bruder.
    Und vor eineinhalb Jahren starb Saschas Vater Wasilij in der Stadt, aus der Sascha gekommen war. Er war der Gebildetste in der Familie, unterrichtete an der Universität, war jedoch auch ein Trinker, am Ende trank er hart und schonungslos.
    Sascha brachte den Sarg mit dem Vater im Winter … der Weg war ein Alptraum … es war ihm unerträglich, sich an diese Fahrt zu erinnern.
    »Ich hab den Hof gekehrt und bin zu Opa gegangen«, erzählte die Großmutter. »Ich fragte: ›Opa, ist es wahr, Wasja ist gestorben? Ich glaube, ich hab das geträumt.‹ ›Ist nicht wahr!‹ sagte er … Wie konnte er nur sterben, Sankya …«
    Sascha saß am Tisch, der mit einem alten Tischtuch bedeckt war, und drehte eine Zigarette in den Fingern.
    Die Großmutter sagte leise: »Ich setz mich ans Fenster und sitze und sitze. Ich denke, würde mir jemand sagen: Geh tausend Tage barfuß in egal welchem Winter, um deine Buben zu sehen – ich würde sofort gehen. Würde nichts sagen, sie nicht mal berühren, einfach nur sehen, wie sie atmen.«
    Die Großmutter sprach ruhig, hinter ihren Worten stand das blanke Entsetzen, jene fast unvorstellbare Einsamkeit, an die Sascha vor Kurzem gedacht hatte, die Einsamkeit, die sich mit ihrer anderen Seite öffnet, die große Einsamkeit, die selbst ihres Echos beraubt ist. Sie antwortete auf nichts, auf keine Stimme.
    »Waskja hat so viele Bücher gelesen, steht denn in keinem geschrieben, dass man Wodka so nicht trinken darf?«, fragte
die Großmutter Sascha ohne eine Antwort zu erwarten. »Er hat doch unzählige Bücher gelesen, und heißt es dort nicht, dass man vom Wodka stirbt?«
    Sascha schwieg.
    »Und jetzt liegen sie alle dort draußen. Sie stehen nicht mehr auf, trinken keinen Wodka mehr, fahren nirgendwo hin, sagen niemandem mehr ein Wort. Zu Tode getrunken haben sie sich. Der Opa und ich dachten, wir werden neben dem jüngsten Buben liegen, aber Kolkja und Waskja haben sich in unsere Gräber gelegt. Für uns ist da jetzt nicht einmal mehr Platz.«
    Die Großmutter kochte gleichzeitig mit zwei Pfannen – in
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