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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Fremde
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beunruhigt auf den hartnäckigen Rhythmus.
    Irgend
etwas sagt es damit, zweifellos. Aber vielleicht muß man das gar nicht mit dem
Ohr und dem Verstand hören. Und er lauschte mit angehaltenem Atem. Vielleicht
gibt es Texte, die man nicht ins Lateinische oder Französische übersetzen kann
... Einmal mußte er sich auch davon befreien: vom engen Wortschatz des
»Verstandes«, einigen hunderttausend Begriffen, die eifersüchtig irgendein
Geheimnis bewahrten, das sie weder ganz in sich aufnehmen noch ausdrücken
konnten. Was will ich noch mit dem »Verstand«? fragte er staunend. Der ist nur
drüben zu gebrauchen, an der Küste; dort ist er nicht schlecht, man kann sich
mit seiner Hilfe zurechtfinden, wie mit Maßeinheiten oder Vorschriften. Hier
kann er mir natürlich nicht viel nützen ... Und hat man, wenn man zum Mars
reist, eine Präzisionsweckuhr und eine Lebensversicherungspolice
in der Tasche? Vielleicht gibt es auf dem Mars gar keine Zeit.
    Die Landschaft
um ihn herum wurde plötzlich dunkel, als hätte jemand mit einer raschen
Bewegung das Licht ausgedreht. Jetzt hörte er das Meer nur noch, aus großer
Ferne, als würde ein Verrückter immer das gleiche Wort in die Dunkelheit sprechen.
Am Ufer flammten die Lampen auf, und mit dem kalten Glänzen künstlichen Lichts
erschien der Mond am Horizont. Gedankenverloren suchte er unter den hellen
Punkten am Ufer das Hotel, konnte sich jedoch in der Dunkelheit nicht mehr
orientieren.
    Was wird
die Arme jetzt wohl machen? ging es ihm beiläufig durch den Kopf, fast wie aus
Höflichkeit. Seit er das Zimmer zweiundvierzig verlassen hatte, dachte er jetzt
zum ersten Mal an sie, mitfühlend, doch ohne besondere Bewegung, wie man an
eine gleichgültige Bekannte denkt, von der man weiß, daß sie krank ist oder
Kummer hat. Vielleicht wäscht man sie ... Was machen die Toten? Er trat
an den Rand der Lichtung, starrte in die vom Sirup des Mondes süßlich
beträufelte Landschaft und zuckte die Achseln. Die Toten haben kein
Geschlecht. Er bedauerte die Fremde ein wenig, verspürte aber weder Lust
noch Notwendigkeit, sie sich ins Gedächtnis zu rufen. An ihr Gesicht konnte er
sich nicht erinnern, sah nur ihre Hand, diese schmale, nicht besonders schöne
knochige Frauenhand, daran den kleinen Ring mit dem blauen Stein. Den Ring hat
sie wahrscheinlich schon als Schulmädchen
bekommen. Erstaunlich, daß sie ihn noch anstecken konnte. Freilich, ihre Hand
war sehr mager. Fast ekelte es ihn, als er an diese knochige Hand dachte.
    Eliz’
weiche Kinderhände fielen ihm ein. Wann wird sie es erfahren? sinnierte er. In
Südamerika? Vielleicht kommt es gar nicht in die Zeitungen ... Vielleicht
erfährt sie es nie. Diese Annahme tröstete ihn. Sicher, die Zeitungen sind
gierig und schreiben viele Unwahrheiten. Und sie machen auch vor
Privatangelegenheiten nicht halt. Ein Lustmord, werden sie schreiben ...
    Er war
empört. Die Zeitungen würden in ihrer Gier und mangelnden Gründlichkeit von
einem Lustmord sprechen; er faßte den Entschluß, komme, was da wolle, mit
höflichen, doch bestimmten Zeilen gegen diese Auffassung zu protestieren: Mir
ging es nicht um die Lust, Unsinn. Die Lust kannte ich bereits. Eine
zweitrangige Vergnügung. Nach einer Pause: Wenn sie wenigstens nicht gesungen
hätte!
    Als er ins
Zimmer getreten war und sich auf der Schwelle höflich verneigte – daran konnte
wirklich niemand etwas aussetzen, die Form hatte er mustergültig gewahrt,
wunderbar, in welchen Situationen die Bewegungsautomatik der guten Erziehung
noch zum Tragen kam! –, stand die Fremde am Fenster, eine Notenrolle in der
Hand, und sang. Eine Dilettantin, dachte er nachsichtig. Jetzt beurteilte er
sie milder, mit mehr Mitgefühl als in jenem Moment – eigentlich war es traurig,
wenn eine junge
Frau allein in der Fremde mit Noten in der Hand am Fenster ihres Hotelzimmers
steht und leise singt. Wie eine Verrückte, dachte er. Menschen, allein in
ihren Zimmern ... Millionen und Abermillionen von Menschen. Er sah gereizt um
sich.
    Die Hitze
hatte mit dem Sonnenuntergang nicht abgenommen; ein schwarzer klebriger Stoff
hatte sich auf seine Hände und seine Stirn gelegt, lastete auf seiner Brust
und raubte ihm den Atem. Er blickte auf seine Armbanduhr; es war halb elf vorbei.
Der Mond stand bereits über der Insel, sein Licht fiel starr auf die Lichtung.
Askenasi beschloß, sich auszukleiden, später ging er selten zur Ruhe. In so
einer heißen Nacht wollte er nackt schlafen. Er begann, die Kleider
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