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Sandkönige - Geschichten

Sandkönige - Geschichten

Titel: Sandkönige - Geschichten
Autoren: George R. R. Martin
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schwer von Begriff. Ich wußte längst, worauf Lukyan Judasson hinauswollte. »Ihr Lügner erfindet also einen Glauben.«
    Er lächelte. »Alle möglichen Glauben. Nicht nur religiöse. Stellen Sie sich das mal vor. Wir wissen, was für ein grausames Instrument die Wahrheit ist. Wir ziehen die Schönheit der Wahrheit tausendmal vor. Wir erfinden Schönheit, Glaubensrichtungen, politische Bewegungen, hohe Ideale, den Glauben an Liebe und Kameradschaft. Das sind alles Lügen. Wir erzählen diese und andere Lügen, zahllose andere. Wir verschönern die Geschichte, den Mythos, die Religion, wir machen alles schöner, besser und leichter zu glauben. Unsere Lügen sind nicht vollkommen, natürlich nicht. Die Wahrheiten sind zu groß. Aber vielleicht stoßen wir eines Tages auf die eine große Lüge, für die die ganze Menschheit Verwendung hat. Bis dahin müssen wir uns eben mit tausend kleinen Lügen begnügen.«
»Ich fürchte, ihr Lügner laßt mich ziemlich kalt«, sagte ich mit kühler, gelassener Inbrunst. »Mein ganzes Leben war ein einziges Streben nach Wahrheit.«
    Lukyan hatte Nachsicht. »Pater Damien Her Varis, Ritter der Inquisition. Ich kenne Sie besser. Sie sind auch ein Lügner. Sie leisten gute Arbeit. Sie reisen von Welt zu Welt und vernichten die Dummen, die Rebellen, die Fragenden, die das Gefüge der gewaltigen Lüge, der Sie dienen, zum Einsturz bringen könnten.«
»Wenn die Lüge, der ich diene, so bewundernswert ist«, sagte ich, »warum haben Sie sich dann von ihr getrennt?«
»Eine Religion muß zu einer Kultur und zu ihrer Gesellschaft passen, mit ihr zusammenarbeiten, nicht gegen sie. Wenn es Reibungen, Widersprüche gibt, dann bricht die Lüge in sich zusammen, der Glaube wankt. Ihre Kirche, Pater, ist für viele Welten gut, doch nicht für Arion. Hier ist das Leben freundlich, Ihr Glaube aber ist streng. Wir lieben hier die Schönheit, und Ihr Glaube bietet davon zu wenig. Also haben wir ihn verbessert. Wir haben uns lange mit dieser Welt beschäftigt. Wir kennen ihr psychologisches Profil. Der heilige Judas wird hier Erfolg haben. Er bietet Dramatik und Farbe und viel Schönheit, die ästhetische Seite ist bewunderungswürdig. Seine Tragödie endet glücklich. Auf Arion schwärmt man für solche Geschichten. Die Drachen sind eine nette Beigabe. Ich finde, Ihre Kirche sollte einen Weg suchen, Drachen in ihre Lehre einzubauen. Es sind herrliche Geschöpfe.«
»Mythische«, sagte ich.
    »Kaum«, erwiderte er. »Schauen Sie doch mal hin.« Er grinste mich an. »Sehen Sie, es läuft wirklich alles auf den Glauben hinaus. Wissen Sie denn, was vor dreitausend Jahren tatsächlich geschah? Sie haben Ihren Judas, ich habe meinen. Beide haben wir Bücher. Ist Ihres richtig? Können Sie das wirklich glauben? Ich habe vorerst lediglich Zugang zum ersten Kreis des Ordens der Lügner. Daher kenne ich nicht alle Geheimnisse, doch ich weiß, daß unser Orden sehr alt ist. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Evangelien von Männern geschrieben wurden, die mir sehr ähnlich waren. Vielleicht hat es nie einen Judas gegeben. Vielleicht auch nie einen Christus.«
»Ich glaube fest daran, daß es sie nie gegeben hat«, sagte ich.
    »In diesem Gebäude gibt es hundert Leute, die tief und sehr real an den heiligen Judas und den Weg von Kreuz und Drachen glauben«, erwiderte Lukyan. »Der Glaube ist eine sehr gute Sache. Wußten Sie, daß die Selbstmordrate auf Arion um fast ein Drittel zurückgegangen ist, seit es den Orden des heiligen Judas gibt?«
    Ich erinnere mich, wie ich langsam vom Stuhl aufstand. »Sie sind genauso fanatisch wie alle Häretiker, die ich kennengelernt habe, Lukyan Judasson«, sagte ich zu ihm. »Sie tun mir leid, weil Sie Ihren Glauben verloren haben.«
    Lukyan erhob sich ebenfalls. »Bedauern Sie sich selbst, Damien Her Varis«, meinte er. »Ich habe einen neuen Glauben und einen neuen Lebenszweck gefunden und bin ein glücklicher Mensch. Sie, mein lieber Freund, quälen sich und fühlen sich elend.«
    »Das ist eine Lüge!« Ich fürchte, ich habe das laut herausgeschrien.
    »Kommen Sie mit«, sagte Lukyan. Er berührte ein Brett an der Wand, und das große Gemälde von Judas, der über seine Drachen weint, glitt in die Höhe. Dahinter war eine abwärts führende Treppe.
    Im Keller stand ein großer Glasbottich mit blaßgrüner Flüssigkeit, und darin schwamm ein Etwas — ein Etwas, das stark einem uralten Embryo glich, zugleich bejahrt und infantil, nackt, mit riesigem Kopf und
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