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Sanctus

Sanctus

Titel: Sanctus
Autoren: Simon Toyne
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Samuels Leiche lag. » Das Kreuz wird fallen «, sagte er und richtete den Finger auf Liv. » Das Kreuz wird sich erheben «, seine Hand wanderte zu dem Tau, » das Sakrament zu befreien, am Beginn der neuen Zeit, durch seinen gnadenvollen Tod. « Mit einem lauten, metallischen Knall löste er eine der Klammern an der Seite des Tau. »Sie, die einst dem Menschen seine Göttlichkeit geraubt hat, wird sie nun wiederherstellen.« Weitere Klammern wurden gelöst, bis sich der vordere Teil des Tau langsam öffnete und die Frau darin einen gequälten, animalischen Schrei ausstieß.
    Das Tau war kein Kreuz, es war ein Metallsarg voller spitzer Dornen, wie eine Eiserne Jungfrau, und die Innenseite schimmerte von der dunklen Flüssigkeit, die Liv für Harz gehalten hatte. Doch es war kein Harz, sondern Blut, das aus Hunderten von Stichwunden in dem zerbrechlichen, nackten Leib der Frau im Inneren rann. Sie war jung, mehr Mädchen als Frau, und doch leuchtete ihr langes Haar weiß in der Dunkelheit und klebte in dicken Strähnen an einem Leib voller Blut und ritueller Wunden, deren Muster Liv inzwischen auf schreckliche Art vertraut war.
    »Die Narben, die wir tragen, erinnern uns daran, dass wir versagt haben. Es ist uns nicht gelungen, die Welt von diesem Bösen zu befreien«, sang der Abt, als würde er ein Gebet rezitieren. »Die Rituale, die wir praktizieren, rauben ihr das Blut und schwächen sie, bis der Gerechtigkeit endlich Genüge getan werden kann.«
    Liv schaute der Frau in die Augen. Sie waren grün wie ein See und so groß wie die eines Kindes, doch unergründlich und voller Schmerz. Trotz der grotesken Situation empfand Liv ein Gefühl der Intimität, als wäre die Kapelle nur ein Raum und das Mädchen vor ihr eine verlorene Freundin aus Kindertagen. Sie nun zu sehen war, als würde sie einer anderen Version von sich selbst begegnen, wie ein unerwartetes Spiegelbild in einem tiefen Brunnen. Es war, als würde die sanfte Brise, die von der jungen Frau ausging und die den Duft von Gras mit sich trug, sie irgendwie miteinander verbinden. Die grünen Augen schauten tief in die ihren, und Liv fühlte sich nackt und akzeptiert; erkannt, doch nicht verurteilt. Und wie durch ein Fenster, so ließen sie auch Liv sehen. Und sie sah alles in ihr und sie in allem. Sie war die Verzweiflung jeder Frau, die Mutter werden wollte, doch nie eine geworden war. Sie war Livs eigene Mutter, die voller Schmerz schrie, als sie ihr Leben für ihre beiden Kinder gab. Sie war all die Herzen, die je gebrochen worden waren, und all die Tränen, die eine Frau je vergossen hatte. Sie war die Frau, und die Frau war sie. Der Schmerz aller war ihr Schmerz, und der ihre war unvorstellbar. Und Liv sah all das und empfand eine Sehnsucht, die Hand auszustrecken und ihr den einfachen Trost einer Berührung zu spenden, als wäre sie die Mutter und das gequälte Kind im Kreuz das ihre, verloren in einem Albtraum, der länger andauerte, als ein Mensch sich vorzustellen vermochte. Doch Livs unsichtbarer Wächter hielt sie zu fest, als dass sie die Hand hätte bewegen können; also griff sie mit Worten hinaus.
    »Alles wird gut«, sagte sie und blinzelte die Tränen weg. »Schschsch. Alles wird wieder gut.«
    Evas klare grüne Augen hielten Livs Blick für einen Moment fest; dann lächelte sie das schwächste aller Lächeln und seufzte.
    Plötzlich spürte Liv, wie ihr etwas in die Hand gedrückt wurde. Sie schaute nach unten und sah die dünne Klinge eines Dolchs in ihren Fingern.
    »Erfülle dein Schicksal«, sagte der Abt und hielt ihr die Hand. »Befreie die Menschheit von ihrem größten Übel.«
    Liv starrte die Klinge an, und voller Entsetzen erkannte sie, warum man sie hierhergebracht hatte. Sie versuchte, die Waffe fallen zu lassen. Allein ihre Existenz widerte sie schon an. Sie versuchte, sich dem Griff zu entwinden, doch die Hände, die sie hielten, waren zu stark. Dann kamen ihr wieder Samuels Worte in den Sinn.
    Wenn andere für einen gestorben sind, dann hat Gott dich aus gutem Grund verschont.
    Liv hatte sich oft gefragt, was der Sinn ihres Lebens war, doch was auch immer er sein mochte, das hier war es nicht. Diese wunderbare, gequälte Frau durfte nicht sterben. Nicht durch ihre Hand. Sie schaute in das blasse, elfenhafte Gesicht, spürte die Brise in sich und roch das Gras so stark wie nie zuvor, und mit ihm kam ein Geräusch wie von einer Brandung, das sie auf seltsame Art tröstete und eine Welle von Erinnerungen mit sich brachte.
    Liv
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