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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Autoren: Pascale Hugues
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dieser Epoche stammt. Es hat die Zeiten ohne eine Schramme überstanden. Was für ein Schock, als ich mich in Berlin in einer Straße voller Narben wiederfand. Man kann es nicht anders sagen: Meine Berliner Straße ist ziemlich hässlich. Rau. Kaputt. Sie kennt nicht die perfekt rhythmisierte Gliederung und die makellosen Fassaden von Pariser Straßen. Bei den Pariser Straßen wird die Einheit nicht zerstört durch klaffende Löcher und stillose Gebäude, die da nicht hingehören. Diese Harmonie entzückt mich jedes Mal von neuem. Paris ist nicht bombardiert worden. Es gab zwar auch die eine oder andere skandalöse Bausünde, einen Brand, Abrisse für den Durchbruch einer großen Allee, der Ringautobahn oder um Platz für ein Einkaufszentrum zu schaffen. Aber im großen Ganzen haben sich die Pariser Straßen nicht sehr verändert. Man kann mit Leichtigkeit ihr einstiges Aussehen rekonstruieren, sich das frühere Leben darauf ausmalen, die Passanten in Gedanken in historische Kleidung stecken und zusehen, wie sie völlig natürlich die hohen Haussmann’schen Gebäude betreten. Die Pariser Straßen haben sich sanft durch Zeiten und Epochen tragen lassen. Sind praktisch heil in unserer Zeit angekommen.
    Ganz anders meine Straße in Berlin. Sie besteht aus Brüchen. Brutalen Rissen. In ihr überlagern sich die Epochen, von denen die eine die Erinnerung an die vorige fast vollständig auslöscht. Auf dem Gehsteig vor der Nummer  12 stolpern die Passanten noch immer über das «Murmelloch», eine Kerbe, die während der letzten Straßenkämpfe vom April 1945 eine Granate in die Bodenplatte geschlagen hat. Die Jungen der Straße steckten in den fünfziger Jahren ihre Murmeln hinein. Es ist noch nicht allzu lange her, fünf Jahre vielleicht, da waren auf manchen Fassaden noch die Einschusslöcher zu sehen. Und bevor in meinem Haus der Fahrstuhlschacht vor zwei Jahren neu verputzt und gestrichen wurde, gab es an den Wänden Einschlagspuren der Granatsplitter. Auf dem Gelände des Supermarkts beim Parkeingang liegt wild durcheinander ein halbes Dutzend moosbedeckte Stelen, als hätte ein Junge seinen Bauklötzen einen trotzigen Fußtritt versetzt. Die Bordüren im Stein weisen darauf hin, dass es sich dabei um Teile aus der Vorkriegszeit handelt. Um Fensterrahmen? Sockel? Weiß der Himmel, wie sie über ein halbes Jahrhundert erhalten geblieben und warum sie nicht mit den übrigen Trümmern entsorgt worden sind. Ringsum leere Zigaretten- und Tablettenpackungen, Joghurtbecher und ein umgekippter ausgeleierter Bürostuhl. Die Passanten haben ihre Abfälle hinter die Umzäunung befördert. Hinter diesem entweihten Friedhof der dahingegangenen Nummer  8 befindet sich der «Edeka-Fußballplatz», nach der Schule Treffpunkt für die Jungs aus der Straße.
    Aber diese Schönheitsfehler zählen nicht. Meine Straße gehört zu denen, die man liebt, ohne zu berechnen. Mit dieser ruhigen Zuneigung, die man Menschen oder Dingen entgegenbringt, die uns nichts mehr zu beweisen haben. Mit einer Liebe, die von der Gewohnheit lebt, durch die tägliche Begegnung gefestigt und gegen alle bösen Überraschungen gefeit ist. Diese Straßen sind Tag für Tag Zeuge unseres Lebens geworden, von Geburt und Tod, Liebe und Kummer, Freude und Sorge, Weihnachten und Geburtstagen, Langeweile und Dramen, von einer unfassbaren Emotion bisweilen, einer flüchtigen Wehmut, all dieser Jahre, die unbemerkt verflogen sind … Ja, sie sind in gewisser Weise ein Teil von uns selbst geworden. Sie sind der Schauplatz des täglichen Einerleis, dieser kleinen Nichtigkeiten des Lebens, der Stunden, in denen nichts passiert, all dieser winzigen Ereignisse, die nach und nach aus unserem Gedächtnis verschwinden. Es wäre aber zu billig, sich über ihre Gewöhnlichkeit lustig zu machen. Erst recht, da sie um ihren bescheidenen Status wissen und sich nie über ihr Schicksal zu erheben versuchen. Ihre Verletzlichkeit rührt uns. Sie fordert unsere Loyalität heraus.
     
    Meine Straße hat nicht die Selbstherrlichkeit der großen Prachtstraßen. Die Wilhelmstraße, der Kurfürstendamm: entweder ein einziges Grauen oder reine Frivolität. Die Wilhelmstraße eine Geschichtsmeile, die bis 1945 Hitlers Reichskanzlei beherbergte. Der Kurfürstendamm in den zwanziger Jahren Hochburg des wilden Nachtlebens, danach während des Kalten Krieges das ostentative Schaufenster des Westens. In meiner Straße hingegen kein einziges erwähnenswertes historisches Datum. Ich habe nur ein
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