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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Autoren: Pascale Hugues
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«Je hilfloser ein Lebewesen ist, desto größer ist sein Anspruch auf menschlichen Schutz vor menschlicher Grausamkeit.» Sie berichtete uns, dass im anliegenden Park «über 29 alte gesunde Bäume» gefällt werden sollten, und brachte stammelnd, mit der Stimme eines erschreckten Schulmädchens, das seine auswendig gelernte Lektion aufsagt, die guten Argumente vor, die dies untersagten: «Die Bäume können CO ₂ -Emissionen stoppen und wirken positiv auf die menschliche Psyche!» Was auf unserem Platz geschah, rief sie in Erinnerung, laufe sämtlichen von der Regierung eingegangenen Verpflichtungen für den Klimaschutz zuwider. In unserem kleinen Rahmen verriet Deutschland die großen, auf der internationalen Szene gemachten Versprechen, genehmigte die Zerstörung eines Ökosystems. Zum Glück waren die Militanten der Partei
Die Linke
da, die auf sämtliche Barrikaden abonniert ist, um diese stümperhafte Veranstaltung in die Hand zu nehmen. Es war die flammendste Rede von allen. Ihr Repräsentant denunzierte das «Sozialelend» und den «Ausverkauf von ganz Berlin». Auch die Genossen von der DKP gönnten sich einen Kiez-Aufstand, eine Miniaturrevolution, ohne Blut und ohne Risiko. Von einer plötzlichen Aufwallung von Frühlingsgefühlen beflügelt, eilten sie mit einem Pamphlet von mehreren Seiten herbei. Ein seichter Text, der dieser Episode des Klassenkampfs einen ideologischen Rahmen verpassen sollte. Die Kapitalisten auf der einen, die Unterdrückten auf der anderen Seite. Die Genossen fuhren ihr ganzes Repertoire auf, denunzierten die «Vertreibung», den «Aufwertungswahnsinn», den «Anbruch sozialer Kälte», die «Entmietungsmachenschaften» besonders auf «unsere Migranten», «sodass beinahe eine rassistische Dimension erreicht wird, die auch dem internationalen Ansehen von Berlin-Schöneberg schaden dürfte!».
     
    Meine Straße war der schleppenden Gentrifizierung ausgeliefert. Ein langes, zu englisches Wort, das viele Berliner eher stammeln als aussprechen, so viele Bedrohungen verstecken sich hinter dem vornehmen Begriff. Die Alten mit ihren kostengünstigen Mieten, die Arbeitslosen, Studenten, Künstler und alle armen Schlucker, denen die Nummer  4 ein Obdach gewährte, würden das Nachsehen haben. Um die soziale Durchmischung wäre es geschehen. Unsere Straße würde «klassenmäßig homogenisiert» werden. Die Armen würden an die Berliner Randbezirke verbannt und den Zugezogenen, diesen Neuankömmlingen Platz machen, die aus allen vier Ecken des Globus angerannt kamen: hohe Bundesbeamte, reiche Zahnärzte aus Düsseldorf und Anwälte aus München, Herrensöhnchen in der Bohemephase und schwäbische Werbetexter, die sich von vegetarischen Maultaschen und Müsli aus fairem Anbau ernähren, irische, spanische, dänische, sogar israelische Spekulanten und die Verwalter amerikanischer Pensionsfonds. Wer weiß, vielleicht würde sogar ein Hollywoodstar, ein Kollege von Brad Pitt und Angelina Jolie, die nicht weit von hier wohnten, einen Loft mit Dachgarten erstehen und mit seinen Paparazzi im Schlepptau bei uns einziehen. Unsere Straße als Sunset Boulevard. Diese Neuzuzügler waren die Verkörperung des menschenverachtenden Klassenfeinds, der es darauf abgesehen hat, seine Kröten in der hippesten Stadt Europas in vollem Immobilienboom zu parken. Er würde unsere Straße entstellen und in zwei Lager spalten: die netten, armen Opfer auf der einen, die bösen reichen Täter auf der anderen Seite.
    Vor 25  Jahren hätte sich im alten West-Berlin niemals ein Käufer für ein solches Gebäude gefunden. Wem wäre, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, eingefallen, seine Ersparnisse in den Stein einer Frontstadt mit so ungewissem Schicksal zu investieren? Einer armen Stadt, am Tropf der alten Bundesrepublik, ohne große Zukunft. Mit der Vereinigung und der Bestimmung Berlins als Hauptstadt des neuen Deutschlands haben sich sämtliche Ängste verflüchtigt. In diesen Zeiten der finanziellen Turbulenzen ist es keine schlechte Idee, das Geld in Stein anzulegen. Man sieht Immobilienscouts im Viertel herumstreichen, die nach Brachflächen und Kriegslücken suchen, die es zu füllen gibt. Die «abbruchreifen» Nachkriegsgebäude und ihre großzügigen, «bebauungsfähigen» Vorgärten sind besonders begehrt. Diese Heuschrecken, wie sie in meiner Straße genannt werden, wollen jeden Quadratmeter Terrain nutzbar machen.
    Doch wer soll sich das leisten können?, empörte sich unsere Stadtteilzeitung. «Die
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