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Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub
Autoren: Paul J. McAuley
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er
versuchte, sich durch die Menge von Bittstellern zu drängen, die
darauf warteten, daß sie an der Reihe wären, zum Thron
geleitet zu werden, wurde er geschlagen, geschoben und gedreht,
daß aus seinem Weg der Gang eines Säufers wurde, der ihn
genau dorthin zurückführte, wo er angefangen hatte.
    »Ich hab’s dir gesagt!« jammerte Nummer
Achtundvierzig. »Wir sollten nicht hier sein. Wir haben nicht
die Codes!«
    Lee faßte den Jungen an der Hand und tauchte erneut in die
Menge ein. Sie wurden hierhin und dorthin geschoben, und
plötzlich stand Lee vor jemandem, den er kannte. Er blickte sich
ins eigene Gesicht.
    »Du bist weit gekommen, Herr«, sagte der
Bibliothekar.
    »Ich habe Glück gehabt, dank der Hilfe meiner
Freunde«, sagte Lee. »Ich bedauere, daß ich noch
immer einen gewissen Weg zu gehen habe, und jetzt ist niemand mehr
da, der mir hilft.«
    »Wenn du gestattest, kann ich dir vielleicht ein letztes Mal
dienen. Danach gehört der Weg ganz dir.«
    »Zum erstenmal«, sagte Lee, und jäh verspürte
er, trotz seiner Furcht, wie ihn eine ruhige Freude erfüllte.
Hier, in dieser Halle von Geistern, war er schließlich niemand
außer er selbst. Gewinnen oder verlieren, es läge
völlig an ihm.
    »Nutze deine Freiheit weise, Herr«, sagte der
Bibliothekar und nahm Lees Hand in einen eisigen Griff. Er zog Lee
und Nummer Achtundvierzig durch die Menge von Bittstellern und
Gestalten, die jetzt nicht mehr Widerstand boten als der aromatische
Rauch, und Lee sah schließlich, wer auf dem Thron
saß.
    Er war in gelbe traditionelle seidene Brokatroben mit hohem Kragen
gekleidet, das Gesicht streng und geduldig unter einem rechteckigen
Hut. Er ließ die Ellbogen auf den Knien ruhen und das Kinn in
den Händen, wandte seine Aufmerksamkeit von keinem der
Bittsteller ab und sprach dennoch Dutzende gleichzeitig an. Im
Augenblick der Ansprache nahmen die Geister die Gestalt ihrer Kunden
an – sie alle entweder Männer in Uniform oder üppig
gekleidete Diener des einen oder anderen der Sechserbande oder mehr
oder weniger austauschbar trist gekleidete Conchies –,
verblaßten und wurden wie Rauch weggeblasen.
    »Ich habe alles getan, was ich konnte, Herr«, sagte der
Bibliothekar. »Befreie mich. Befreie mich jetzt.«
    Er hielt den Beutel, der ihm um den Hals hing, hoch, und Lee nahm
den Kontrollchip heraus. Es war ein farbloser Rhombus, stachelig
darauf der Maschinencode, und er wand sich in seiner Handfläche
wie ein auf den Rücken gedrehter Käfer. Der Bibliothekar
ergriff ihn, verneigte sich und lief einen Korridor hinab, den Lee
nicht bemerkt hatte, wobei sein schwarzer Mantel wie eine zerrissene
Flamme schlug. Er wurde kleiner und kleiner und verschwand um eine
Ecke und nahm den Korridor mit sich.
    Eine Gestalt faßte Lees Ellbogen und versuchte, ihn
wegzudrängen. Lee lachte und hob den verschlossenen Beutel der
Gestalt, öffnete ihn und hielt ihm den Kontrollchip hin. Die
Gestalt packte den Chip und stopfte ihn sich gierig in den Mund: er
glühte durch eine Haut, die durchscheinend war wie Pergament,
während er hinabsank. Einen Augenblick lang stand ein alter Mann
vor Lee, barfuß und barhäuptig, in einem verblaßten
Fischerkittel, beide Ärmel an den Schultern ausgerissen. Es war
die menschliche Schablone der Gestalt, die tote Persönlichkeit,
entführt und an diese Funktion gebunden. Der alte Fischer hob
fragend die Hände vors Gesicht – und dann war er
verschwunden, frei, sich irgendwo im Informationsraum
einzuklinken.
    Lee trat vor, auf einmal allein vor dem Kaiser der Lebenden und
der Toten.
    Der Kaiser entließ die Gestalten mit einer gemessenen Geste
und stand auf, und Lee erkannte ihn wieder, noch bevor er den Hut und
den langen Schnauzbart abnahm. »Du kommst zu spät«,
sagte Urgroßvater Weis Phantombild, legte den falschen
Schnauzbart in den Hut und warf den Hut über die Schulter ins
Paradies. Ein angemalter Buddha packte ihn und setzte ihn sich heiter
auf den geschorenen, langohrigen Kopf. Der Kaiser trat vom Thron
herab.
    »Ich habe viele Erscheinungsweisen«, sagte der Kaiser.
»Jetzt, da der Kleine Vogel tot ist, gehört ein jeder der
Zehntausend Jahre mir. Komm mit, Wei Lee. Du kannst deinen kleinen
Freund auch mitnehmen, oder was von ihm übrig ist.«
    Da war eine Spalte. Lee hatte eine falsche Erinnerung, wie er
durch das Tor der Himmlischen Reinheit hinter den Drei Großen
Hallen getreten war; wie er um die drei Paläste herumgegangen
war, wo stets die Macht gewohnt hatte, hinter der
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