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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache
Autoren: Thomas Harris
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förmlich zu wirken, hatte er Jackett und Krawatte abgelegt und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Molly fand seine dicken, bleichen Unterarme widerlich. In ihren Augen sah er aus wie ein neunmalkluger Affe.
    Sie servierte ihm unter dem Ventilator auf der Veranda Kaffee und leistete ihm Gesellschaft, während Graham und Willy die Hunde füttern gingen. Sie saß stumm neben ihm. Motten flatterten kaum hörbar gegen das Fliegengitter.
    »Er sieht gut aus, Molly«, brach Crawford das Schweigen. »Was auf Sie natürlich keineswegs weniger zutrifft - schlank und braungebrannt.«
    »Sie werden ihn doch von hier wegholen, ganz egal was ich sagen werde, oder nicht?«
»Ja. Ich kann nicht anders: Mir bleibt keine andere Wahl. Aber ich schwöre Ihnen, bei allem, was mir heilig ist, Molly, daß ich es ihm so einfach machen werde wie nur irgend möglich. Er hat sich sehr verändert. Ich finde es großartig, daß Sie beide geheiratet haben.«
»Es geht zusehends aufwärts mit ihm. Er hat diese Träume nicht mehr so oft. Eine Weile war er ganz versessen auf die Hunde; inzwischen sorgt er nur noch für sie. Jedenfalls redet er nicht mehr ständig über sie. Sie sind doch sein Freund, Jack. Warum können Sie ihn nicht in Frieden lassen?«
»Weil er das Pech hat, der Beste seines Fachs zu sein. Weil er nicht wie andere Leute denkt. Irgendwie hat sich sein Denken nie festgefahren.«
»Er meint, Sie wollen, daß er sich Beweismaterial ansieht.«
»Genau das will ich auch von ihm. Niemand versteht sich darauf besser als er. Aber darüber hinaus verfügt er über Vorstellungskraft, Fantasie und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, oder wie auch immer Sie es nennen wollen. Allerdings ist er darüber nicht gerade glücklich.«
»Das wären auch Sie nicht, wenn Sie sie hätten. Versprechen Sie mir zumindest eines, Jack. Versprechen Sie mir, daß er nicht in vorderster Front stehen wird. Wenn er sich nochmals auf einen Kampf einlassen müßte, könnte das seinen Tod bedeuten.«
»Er wird nicht kämpfen müssen. So viel kann ich Ihnen jetzt schon versprechen.«
    Als Graham die Hunde versorgt hatte, half ihm Molly packen.

2. K APITEL

    L angsam fuhr Will Graham an dem Haus vorbei, in dem Charles Leeds mit seiner Familie gelebt hatte und gestorben war. Die Fenster waren dunkel. Nur eine Lampe über der Eingangstür brannte. Zwei Blocks weiter hielt Graham an und ging durch den warmen Sommerabend zu Fuß zurück. In einem Schutzumschlag aus kräftigem Karton trug er den Bericht der Mordkommission von Atlanta bei sich.
    Graham hatte darauf bestanden, allein herzukommen. Die Anwesenheit einer zweiten Person im Haus hätte ihn nur abgelenkt; das war zumindest der Grund, den er Crawford genannt hatte. Doch er hatte einen anderen, persönlicheren Grund für seinen Wunsch: Er war sich nicht sicher, wie er reagieren würde. Deshalb wollte er nicht ständig von jemandem beobachtet werden.
    Im Leichenschauhaus war alles gutgegangen.
Das zweistöckige Haus lag etwas von der Straße zurückversetzt auf einem Grundstück mit altem Baumbestand. Graham blieb lange unter den Bäumen stehen und betrachtete das Haus. In seinem Innern bemühte er sich um vollkommene Ruhe. Doch in seinen Gedanken schwang im Dunkel beständig ein silbernes Pendel hin und her. Er wartete, bis das Pendel zur Ruhe kam.
Wenn Nachbarn am Haus vorbeifuhren, schauten sie kurz herüber, um jedoch den Blick sofort wieder abzuwenden. Ein Haus, in dem ein Mord geschehen ist, stellt für die Anwohner, ähnlich dem Gesicht eines Verräters, eine ständige Bedrohung dar. Nur Außenstehende und Kinder wagen es, ein solches Gebäude offen anzustarren.
Die Jalousien waren nicht heruntergelassen. Zufrieden nahm Graham das zur Kenntnis. Es bedeutete, daß bisher keine Verwandten das Haus betreten hatten. Verwandte ließen immer die Jalousien herunter. Ohne seine Taschenlampe anzuknipsen, ging er vorsichtig um das Haus. Zweimal blieb er stehen, um zu lauschen. Die Polizei von Atlanta wußte zwar, daß er hier war, aber auf die Nachbarn traf das nicht zu. Sie waren sicher entsprechend nervös, und es war nicht auszuschließen, daß sie von einer Schußwaffe Gebrauch machten.
Als er durch ein Fenster auf der Rückseite spähte, konnte er durch das ganze Haus bis zu dem Lichtschein der Lampe über dem Eingang sehen; die Silhouetten der Möbel zeichneten sich deutlich gegen das schwache Licht ab. Die Luft war von schwerem Jasminduft erfüllt. Fast über die gesamte Rückseite des Hauses
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