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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
Autoren: Anilda Ibrahimi
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meine Mutter ließ sich öfters Kleider von ihm nähen. Ich trat auf die Stoffe zu und sog den eigentümlichen Geruch nach Neuware in mich ein, der sich mit dem nach Mottenkugeln vermischte. Ich sah diesen vornehmen Herren mit seiner eleganten Brille und blieb in seiner Werkstatt, in der Hoffnung, ein wenig von jener Luft mit fortnehmen zu können. Ich lief in dem düsteren Raum herum, betrachtete die schwarzen, weißen und blauen Stoffe und hörte das fröhliche Geplauder der Frauen im Hintergrund. Sie trugen sorgfältig gekämmtes Haar und schmale Gürtel um die Taille. Mit ihren lebhaften Augen blickten sie sich in dem geschlossenen Raum um, so wie sie insgesamt fast ein halbes Jahrhundert lang auf geschlossene Türen geblickt hatten. Ich weiß nicht, warum sie nach dem Krieg nicht gegangen waren, sie hätten es gekonnt. Vielleicht aus Dankbarkeit oder aus Protest gegen die Welt, die sie nicht hatte retten wollen oder können. Vielleicht fühlten sie sich einfach sicher, so vollkommen abgeschieden würde sie niemand mehr finden. Nach dem Ende des Regimes gingen sie ebenso wie die anderen fort.
    Im ersten Jahr nach dem Zusammenbruch des Kommunismus durchlebte ich eine spirituelle Krise. Das riesige Angebot an Religionen verwirrte mich. Es war ein regelrechter Jahrmarkt, auf dem alle versuchten, ihren Glauben als den besten feilzubieten.
    »Nehmt uns«, schienen die Protestanten zu sagen, »wir sind ganz offen. Schaut euch unsere Pfarrer an, sie sind alle verheiratet.«
    Tatsächlich heiratete der Pfarrer aus der Kirche in der Elbasan-Straße später meine Freundin Tina. Ich trieb mich ebenfalls ziemlich oft in der Gemeinde rum in der Hoffnung, über ihn einen anderen Pfarrer kennenzulernen: Auch ich wollte einen Amerikaner heiraten. Aber es klappte nicht. Keiner seiner Kollegen war auf der Suche nach einer Frau, sie waren alle verheiratet.
    In der von Saudi Arabien finanzierten Moschee wurden anfangs Seidentücher verschenkt, die so schön waren, dass die Frauen Schlange standen, um hineinzukommen. Die Tücher dienten dazu, sich während des Gottesdienstes das Haar zu bedecken, aber danach konntest du damit machen, was du wolltest. Eine Freundin hatte mir außerdem gesagt, dass wir, wenn wir nur oft genug in die Moschee gingen, früher oder später einen echten Scheich zum Mann bekommen würden. Im Unterschied zu dem Pfarrer, der nur Tina geheiratet hatte, hätte in diesem Fall der Scheich gleich uns beide heiraten können.
    Aber mir wurde die Warterei bald langweilig, und ich begab mich auf die Suche nach neuen spirituellen Erfahrungen. Ich lernte einen sehr netten Kreis von Leuten kennen, die aus dem Iran kamen: Sie nannten sich Bahai. Sie verschenkten nichts und stellten auch keine guten Partien in Aussicht. Sie sangen, lachten und organisierten schöne Picknicks.
    Die katholische Kirche war besser besucht als alle anderen. Die Nonnen waren freundlich, sie verteilten jeden Tag Lebensmittel und Kleider: alles umsonst. Sonntags füllte sich die Kirche: Die Italiener, die wegen der Mission Pellicano vor Ort waren, kamen alle. Mit einigen von ihnen schloss ich Freundschaft, und gleich am ersten Abend landeten wir zusammen in der Diskothek. Meine Kommilitonin Lora verlobte sich mit einem von ihnen. Sie waren ständig zusammen. Er versprach, sie zu heiraten und sie mit nach Italien zu nehmen. Dann wurde Lora schwanger, und er nötigte sie zur Abtreibung, weil er bereits verheiratet war. Loras Geschichte machte mich richtig wütend.
    Schließlich kam ich auch noch in Kontakt mit den Zeugen Jehovas, aber sie waren mir von Anfang an unsympathisch. Diese jungen Männer, die in Anzug und Krawatte herumliefen, erinnerten mich an die unerfahrenen Parteisekretäre der Kommunistischen Jugend. Ihre Broschüren mit Darstellungen von anständig gekleideten Leuten auf grüner Wiese und spielenden Kindern am Fluss glichen den Postkarten aus meiner kommunistischen Kindheit. Nach beinahe fünfzig Jahren hatte jedoch niemand mehr Lust auf diese zuckersüßen Bildchen.

Fünfundzwanzig
     
    Die ersten Jahre nach der politischen Wende schienen mir im Galopp zu verfliegen. Ein Galopp, bei dem man sich nicht umsah, sich nicht vorsah. Aber ich weiß nicht, ob wir wirklich vorwärtskamen. Wer war schon in der Lage, irgendetwas zu begreifen? Es geschahen viele Dinge, mit mir, mit meiner Familie, mit meinem Land und dem Rest der Welt. Aber der Rest der Welt interessierte mich damals nicht. Noch nicht.
    Onkel Timo war von einem Tag auf den
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