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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer
Autoren: Maggie Stiefvater
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»Es gibt Apfelkuchen«, sage ich. »Noch ist er warm.«
    Gabe nimmt seine Mütze aus der Armbeuge und wendet sich mir zu. »Was gibt's zum Abendessen?«
    »Apfelkuchen«, erwidert Finn vom Boden.
    »Und dazu eine leckere Kettensäge«, füge ich hinzu. »Damit hat Finn sich besonders viel Mühe gegeben.«
    »Apfelkuchen ist gut«, beschwichtigt Gabe, aber er klingt müde. »Puck, lass die Tür nicht so lange offen. Es ist kalt hier draußen.« Ich trete einen Schritt zur Seite, um ihn ins Haus zu lassen, und als er an mir vorbeigeht, fällt mir auf, dass er nach Fisch riecht. Ich hasse es, wenn die Beringers ihn Fische ausnehmen lassen. Danach stinkt immer das ganze Haus.
    Gabe bleibt in der Tür stehen. Ich starre ihn an, als er einen Moment bloß dasteht, die Hand auf dem Türrahmen, das Gesicht seiner Hand zugewandt, als studiere er entweder seine Finger oder die abblätternde rote Farbe darunter. Sein Blick wirkt abwesend, wie der eines Fremden, und plötzlich möchte ich ihn umarmen, wie früher, als ich noch klein war. »Finn«, sagt er schließlich leise, »wenn du das da wieder zusammengebaut hast, möchte ich mit dir und Kate reden.«
    Finn blickt hoch, erschrocken, aber Gabe ist schon weg, an mir vorbei in dem Zimmer verschwunden, das meine beiden Brüder sich noch immer teilen, obwohl das Schlafzimmer unserer Eltern leer steht. Entweder Gabes Ankündigung, dass er mit uns reden will, oder die Tatsache, dass er meinen richtigen Namen benutzt hat, hat Finns Aufmerksamkeit auf eine Weise erregt, wie mein Apfelkuchen es nicht vermocht hat. Er fängt an, rasch die Teile einzusammeln, und wirft sie in einen ramponierten Pappkarton.
    Ich habe ein ungutes Gefühl, als ich darauf warte, dass Gabe wieder aus seinem Zimmer kommt. Die Küche hat sich in die kleine gelbe Kammer verwandelt, zu der die Dunkelheit draußen sie immer zusammenzupressen scheint. Ich spüle eilig drei zueinanderpassende Teller und schneide für jeden von uns ein dickes Stück Apfelkuchen ab. Gabe bekommt das größte. Der Anblick der drei einsamen Teller auf dem Tisch, wo früher einmal fünf gestanden haben, macht mich traurig und ich lenke mich schnell ab, indem ich eine Kanne Pfefferminztee koche. Erst als ich die Teetassen neben unseren Tellern hin
    und her rücke, fällt mir auf, dass Minztee und Apfelkuchen vielleicht gar nicht so gut zusammenpassen.
    Finn hat unterdessen damit begonnen, sich die Hände zu waschen, was ewig dauern kann. Schweigend und in aller Ruhe schäumt er seine Hände mit einem Stück Milchseife ein, bis jeder Millimeter Haut zwischen seinen Fingern und jedes Fältchen in seiner Handfläche sorgfältig gereinigt ist. Er ist noch nicht damit fertig, als Gabe aus seinem Zimmer kommt; er hat sich umgezogen, aber er riecht noch immer nach Fisch.
    »Sehr schön«, sagt Gabe zu mir, als er einen Stuhl vom Tisch wegzieht, und Erleichterung durchströmt mich, weil alles in Ordnung ist, weil alles gut werden wird. »Nach einem Tag wie heute gibt es nichts Besseres als Minzduft.«
    Ich versuche mir vorzustellen, was Mum oder Dad jetzt zu ihm gesagt hätten; aus irgendeinem Grund fühlt sich unser Altersunterschied in diesem Moment an wie eine unüberwindbare Kluft. »Ich dachte, du hättest heute im Hotel ausgeholfen.«
    »Sie brauchten Verstärkung am Pier«, antwortet Gabe. »Und Beringer weiß, dass ich schneller arbeite als Joseph.«
    Joseph ist Beringers Sohn und zu faul, um jemals bei etwas schnell zu sein. Gabe meinte mal, wir sollten Joseph dankbar sein, dass er nicht in der Lage ist, an irgendetwas anderes zu denken als an sich selbst, weil Gabe dadurch wenigstens Arbeit hat. Im Augenblick aber bin ich ihm alles andere als dankbar, denn nur weil Joseph so ein Trottel ist, stinkt Gabe jetzt nach Fisch.
    Gabe hebt seine Tasse, aber er trinkt nichts. Finn ist noch immer beim Händewaschen. Ich setze mich auf meinen Platz. Gabe wartet noch ein paar Sekunden, dann sagt er: »Finn, das reicht jetzt, ja?«
    Finn braucht noch eine weitere Minute, um die Seife wieder abzuspülen, dann dreht er den Wasserhahn zu, kommt an den Tisch und setzt sich mir gegenüber. »Müssen wir auch ein Tischgebet sprechen, wenn es nur Apfelkuchen gibt?«
    »Vergiss die Kettensäge nicht«, fauche ich.
    »Gott, wir danken dir für diesen Kuchen und Finns Kettensäge«, sagt Gabe. »Zufrieden?«
    »Gott oder ich?«, hake ich nach.
    »Gott ist immer zufrieden«, bemerkt Finn. »Du bist wesentlich schwieriger bei Laune zu halten.«
    Das ist
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