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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer
Autoren: Maggie Stiefvater
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schweige. Die Grotte schweigt.
    Ich drehe mich um und sehe das Pferd.
    Es ist so nah, dass ich seinen Salzgeruch schmecken kann, so nah, dass ich die Hitze seiner nassen Haut spüren kann, so nah, dass ich die geweitete Pupille in seinem Auge erkenne. Ich rieche Blut in seinem Atem.
    Dann wecken sie mich.
    Es sind Brian und Jonathan Carroll und ich sehe Sorge in ihren Gesichtern – bei Brian zeigt sie sich in ihrer traditionellen Ausprägung: zusammengezogene Augenbrauen und aufeinandergepresste Lippen. Auf Jonathans Gesicht hingegen liegt ein verlegenes Lächeln, das alle paar Sekunden seine Form zu ändern scheint. Brian ist so alt wie ich und ich kenne ihn von den Docks; wir beide ringen mit der See um unser Auskommen und diese Gemeinsamkeit verbindet uns, aber Freunde sind wir nicht. Jonathan ist sein Bruder, der Brian in allem hinterherhinkt, auch in Bezug auf seine Intelligenz.
    »Kendrick«, flüstert Brian. »Bist du wach?«
    Jetzt bin ich es. Ich bleibe liegen, als wäre ich an meine Pritsche gefesselt, und sage nichts.
    »'tschuldige, dass wir dich wecken, Kumpel«, fügt Jonathan hinzu.
    »Du wirst gebraucht«, sagt Brian. Auch wenn ich von diesem nächtlichen Besuch nicht begeistert bin, habe ich nichts gegen Brian. Er sagt immer klar, was er denkt. »Du bist der Einzige, der helfen kann; Mutt steckt in Schwierigkeiten. Hat's für 'ne gute Idee gehalten, sich mitten in der Nacht auf die Lauer nach 'nem Capaill zu legen, und jetzt hat er die Quittung dafür gekriegt und ich glaub, die gefällt ihm gar nicht.«
    »Es wird sie alle umbringen«, sagt Jonathan. Er sieht zufrieden aus, seinem Bruder mit dieser Information zuvorgekommen zu sein.
    »Sie?«, wiederhole ich. Es ist kalt und ich bin hellwach.
    »Mutt und ein paar von seinen Kumpels«, erwidert Brian. »Sie waren zusammen unterwegs und haben das Capaill irgendwie eingefangen, aber jetzt können sie es weder freilassen noch schaffen sie's, es mit zum Hof zu zerren.«
    Nun sitze ich aufrecht. Mir liegt nicht das Geringste an Mutt – unter diesem Namen ist Matthew Malvern, der uneheliche Sohn von meinem Boss, allseits bekannt – oder irgendeinem der Stallburschen, die so unterwürfig hinter ihm herdackeln, aber ich kann das Pferd dort draußen am Strand nicht seinem Schicksal überlassen, in was für eine
    Zwickmühle sich diese Idioten auch immer mit ihm manövriert haben.
    »Du bist doch unser Mann, wenn's um Pferde geht, Kendrick«, beschwört mich Brian. »Wir dachten, wir müssen dich herholen, bevor noch irgendjemand draufgeht.«
    Herholen. Jetzt dämmert mir, warum sie so herumdrucksen; sie waren mit von der Partie und wissen, dass ich sie dafür verachten werde.
    Ich sage nichts mehr. Stehe bloß auf, ziehe mir meinen alten Pullover über den Kopf und schnappe mir meine schwarz-blaue, ölverschmierte Jacke mit all meinen Sachen in den Taschen. Dann deute ich mit dem Kinn auf die Tür und die beiden Brüder huschen voraus wie Wasserläufer am Strand. Jonathan reißt die Tür auf und lässt Brian durch den Stall voranlaufen.
    Der Wind draußen fällt uns an wie ein lebendiges, ausgehungertes Wesen. Der Himmel über Skarmouth hat ein tristes Braun angenommen, stellenweise erhellt von Straßenlaternen, doch überall außerhalb ihrer Reichweite ist es stockfinster. Eine dünne Mondsichel hängt am Himmel, am Meer wird es also ein wenig heller sein, aber nicht viel. Wir eilen im Laufschritt durch die Felder, auf dem direktesten Weg zum Strand. Hier gibt es nichts als Felsen und Schafe, aber beides bringt einen leicht zu Fall.
    »Licht«, sage ich knapp, woraufhin Brian eine Taschenlampe anknipst und sie mir hinhält. Ich schüttele den Kopf. Ich muss die Hände frei haben. Hinter uns ist Jonathan, der schlingert und strauchelt und im Laufen so hektisch mit den Armen rudert, dass der Strahl seiner Taschenlampe verzerrte Muster in die Dunkelheit zeichnet. Ich denke daran, wie meine Mutter mit einer Taschenlampe Wörter an die Wand geschrieben hat, wenn bei einem Sturm der Strom ausgefallen war.
    »Wie weit den Strand rauf?«, frage ich. In ein paar Stunden kommt die Flut, und wenn sie dann irgendwo auf der Landzunge sind, wird das neue Capaill Uisce ihr geringstes Problem sein.
    »Nicht weit«, keucht Brian. Er ist nicht gerade unsportlich, aber körperliche Anstrengung bringt ihn immer schnell außer Atem. Wenn die Sache nicht so ernst wäre, würde ich kurz anhalten und ihn verschnaufen lassen.
    Ich kann jetzt die Stelle sehen, an der sich die
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