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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz
Autoren: Stendhal
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sehen werden.«
    Appert merkte, daß er es mit einem Gemütsmenschen zu tun hatte. Er folgte dem ehrwürdigen Geistlichen und besichtigte das Stadtgefängnis, das Spittel und das Armenhaus. Er stellte häufig Fragen, erlaubte sich jedoch selbst auf die verfänglichsten Auskünfte nicht das geringste Wort des Tadels.
    Die Besichtigung dauerte mehrere Stunden. Hierauf lud der Pfarrer den Menschenfreund zu sich zum Mittagmahl ein. Der entschuldigte sich damit, er habe dringliche Briefe zu schreiben. In Wahrheit wollte er seinen hochherzigen Führer nicht noch mehr in Gefahr bringen.
    Als die beiden Herrn am Nachmittag nochmals nach dem Stadtgefängnis kamen, stand der Kerkermeister, ein baumlanger Kerl mit Säbelbeinen, am Tor. Sein niederträchtiges Gesicht war vor Schreck verzerrt.
    »Herr Pfarrer«, sagte er, sobald er ihn erblickte, »ist der Herr in Ihrer Begleitung nicht Herr Appert?«
    »Warum?« fragte der Geistliche.
    »Ich habe nämlich seit gestern die strengste Order... Der Herr Landrat hat extra den Brigadier hergejagt, und der ist die ganze Nacht unterwegs gewesen. Galopp hat er reiten müssen: ich soll Herrn Appert nicht in das Stadtgefängnis lassen.«
    »Ich will ihnen nur sagen, Herr Noiroud«, gab ihm Chélan zur Antwort, »der Fremde, der mich begleitet, ist Herr Appert. Sie wissen wohl, daß ich zu jeder Stunde bei Tag und Nacht das Recht habe, das Gefängnis zu betreten, und daß ich mich dabei begleiten lassen kann, von wem ich will!«
    »Jawohl, Herr Pfarrer!« gab der Kerkermeister kleinlaut zu und zog den Kopf ein wie eine Bulldogge, die sich vor dem Stocke duckt. »Aber, Herr Pfarrer, ich habe Frau und Kinder. Wenn es herauskommt, werde ich abgesetzt. Ich habe nichts zum Leben als bloß meine Stelle.«
    »Auch mir wäre es sehr schmerzlich, wenn ich meine Stelle verlöre«, sagte der gutmütige alte Mann, und seine Stimme wurde immer weicher.
    »Das ist ganz was andres!« erwiderte der Kerkermeister laut. »Sie, Herr Pfarrer, Sie haben bekanntlich eine Rente von achthundert Franken aus dem hübschen Landgütchen.«
    Das waren die Geschehnisse, die man in Verrières seit zwei Tagen erörterte und in einem Dutzend verschiedener Lesarten entstellte. Sie hatten den Pfuhl der Leidenschaften des Städtchens bis in den Grund aufgewühlt. Augenblicklich gaben sie den Stoff zu dem kargen Gespräch zwischen Herrn von Rênal und seiner Frau.
    Der Bürgermeister hatte am Vormittag in Begleitung von Herrn Valenod, dem Vorstand des Armenamts, den Pfarrer aufgesucht und ihm sein größtes Mißfallen ausgedrückt. Der Geistliche, der keinen hohen Gönner hatte, empfand die volle Schwere ihrer Worte.
    »Meine Herren«, erwiderte er, »so werde ich denn mit meinen achtzig Jahren der dritte Pfarrer sein, den man in hiesiger Gegend absetzt. Ich bin jetzt sechsundfünfzig Jahre hier und habe nahezu alle Einwohner der Stadt getauft. Als ich herkam, war Verrières nur ein Marktflecken. Es ereignet sich Tag um Tag, daß ich junge Leute traue, deren Großeltern ich auch schon getraut habe. Die Stadt ist meine Familie. Aber als ich vorgestern den Fremden sah, den Herrn aus Paris, da habe ich mir gesagt: Möglicherweise ist das ein Liberaler. Deren gibt es ja viel zu viele. Aber was kann er unsern Armen und unsern Gefangenen Böses antun?«
    Die Vorwürfe des Bürgermeisters und besonders des Armenamtsvorstandes wurden nur noch heftiger.
    »Meine Herren!« rief der alte Pfarrer mit bebender Stimme. »Veranlassen Sie, daß ich gemaßregelt werde! Deswegen werde ich doch im Lande bleiben. Wie Sie wissen, habe ich vor achtundvierzig Jahren ein Grundstück geerbt, das mir achthundert Franken Pacht bringt. Davon werde ich leben. Meine Pfarre gewährt mir auch nur meinen Unterhalt, und so schreckt mich Ihre Drohung, sie mir zu nehmen, nicht besonders.«
    Herr von Rênal lebte mit seiner Frau sehr glücklich. Trotzdem wollte er eben heftig werden, da er nicht wußte, was er sagen sollte, als sie ihm bescheiden jenen Einwand wiederholte:
    »Was kann dieser Herr aus Paris den Gefangenen denn Böses antun?«
    Da stieß sie plötzlich einen Schrei aus. Ihr zweites Söhnchen war eben auf die Brustwehr geklettert und lief darauf entlang, ungeachtet, daß die Mauer auf der andern Seite gegen zehn Meter senkrecht in den Weinberg abfiel. Die Furcht, der Junge könne einen Schreck bekommen und hinabstürzen, hinderte sie, ihn zu rufen. Schließlich sah sich das Kind, das an seiner Waghalsigkeit Freude hatte, nach seiner Mutter um und
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