Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz
Autoren: Stendhal
Vom Netzwerk:
beliebt. Das ist ein junger Geistlicher, vor ein paar Jahren von Besançon herversetzt, um dem Abbé Chélan und etlichen andern Pfarrern der Nachbarschaft auf die Finger zu sehen.
    Ein alter Stabsarzt der ehemaligen Armee in Italien , der sich in Verrières zur Ruhe gesetzt hatte und zu seinen Lebzeiten (wie der Bürgermeister zu sagen pflegt) Jakobiner und Bonapartist, alles beides zusammen, gewesen war, erlaubte sich gelegentlich einmal, über die regelmäßig wiederkehrende Verstümmelung der schönen Bäume Beschwerde zu führen.
    Mit der leichten Herablassung, die angebracht ist, wenn ein Royalist mit einem napoleonischen Stabsarzt und Ritter der Ehrenlegion spricht, entgegnete Rênal:
    » Ich liebe den Schatten. Ich lasse meine Bäume verschneiden, damit sie Schatten geben. Meiner Ansicht nach sind Bäume zu nichts anderm da. Eine Ausnahme macht der nützliche Nußbaum. Aber die Platanen bringen ja nichts ein !«
    Etwas einbringen! Das war das geflügelte Wort, das in Verrières allenthalben den Ausschlag gab. Hierin verdichtete sich das Denken und Trachten von mehr als drei Vierteln der Einwohner.
    Etwas einbringen! Das ist das Leitmotiv im Betriebe dieser Kleinstadt, die einem so gefällt. Der Fremde, der sie betritt, wird durch die Anmut der kühlen tiefen Täler ringsum bezaubert. Er bildet sich zunächst ein, ihre Bewohner seien empfänglich für das Schöne. Sie reden auch oft genug von den Reizen ihrer Heimat und rühmen sie gar sehr. Aber dies geschieht nur, weil es die Fremden anlockt, die ihr Geld in den Gasthäusern lassen, was, auf dem Umwege der Steuern, der Stadt etwas einbringt .
    An einem schönen Herbsttage ging Herr von Rênal auf der Stadtpromenade spazieren, seine Frau am Arm. Sie hörte zwar ihrem Manne zu, der in gewichtigem Tone sprach, folgte aber mit ihren Blicken voller Unruhe den Bewegungen ihrer drei Knaben. Der älteste, der elf Jahre alt sein mochte, lief immerfort an die Brüstung und machte Miene, hinaufzuklettern. Jedesmal rief sie mit sanfter Stimme »Adolf!«, worauf der Junge von seinem kecken Vorhaben abließ. Frau von Rênal war offenbar eine Dreißigerin, doch noch sehr hübsch.
    Ihr Mann redete immer weiter. Er sah schlechtgelaunt aus und blasser denn sonst.
    »Es soll ihm übel bekommen, diesem lieben Herrn aus Paris!« sagte er. »Ich habe auch meine Freunde bei Hofe...«
    Dieser liebe Herr aus Paris, auf den der Bürgermeister so schimpfte, war der bekannte Philanthrop Appert, der es zwei Tage vorher zuwege gebracht hatte, nicht allein das Stadtgefängnis und das Armen- und Arbeitshaus von Verrières zu besichtigen, sondern auch das Spittel, das vom Bürgermeister und den ersten Grundbesitzern des Ortes ehrenamtlich verwaltet ward.
    »Sag einmal«, warf Frau von Rênal bescheiden ein, »was kann dir dieser Herr aus Paris denn anhaben, wo du das Gut der Armen mit peinlichster Gewissenhaftigkeit verwaltest?«
    »Solche Leute kommen bloß, um alles mögliche auszuschnüffeln und hinterher in den liberalen Zeitungen zu benörgeln.«
    »Die liest du ja nie, mein Lieber!«
    »Aber man kriegt sie doch zu hören, diese Jakobinerartikel! Es stört einen und hindert uns an der sozialen Arbeit. Was mich anbelangt, ich werde das dem Pfarrer nie und nimmer verzeihen!«

----

Drittes Kapitel
Das Argument
Ein tugendhafter Pfarrer, der keine Ränke schmiedet, ist für sein Dorf ein wahrer Gottessegen.
    Fleury
    C hélan 5 , der Pfarrer von Verrières, war ein alter Mann von achtzig Jahren, der sich aber in der frischen Bergluft einer Gesundheit erfreute, die ebenso eisern war wie sein Charakter. Er hatte das Recht, das Stadtgefängnis, das Spittel und sogar das Armenhaus zu jeder Stunde zu betreten. Der ihm von Paris aus empfohlene Appert 6 war wohlweislich in der neugierigen Kleinstadt früh Schlag sechs Uhr angekommen und hatte sich schnurstracks in das Pfarrhaus begeben.
    Als der alte Mann den Brief las, den der Marquis von La Mole, Pair von Frankreich, der reichste Großgrundbesitzer des Kreises, an ihn richtete, stand er lange nachdenklich da.
    »Ich bin alt und beliebt hier«, murmelte er schließlich vor sich hin. »Man wird es nicht wagen!«
    Alsbald wandte er sich dem Herrn aus Paris zu. In seinen Augen glänzte das heilige Feuer der Freude über eine schöne, nicht ungefährliche Tat.
    »Herr Appert, ich werde Sie führen«, sagte er. »Nur bitte ich Sie, sich in Gegenwart des Kerkermeisters und vor allem des Aufsehers im Armenhaus nicht über das zu äußern, was wir da
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher