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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz
Autoren: Stendhal
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einem Gerüst über vier starken Holzpfeilern. Acht bis zehn Fuß über dem Boden, in der Mitte des Schuppens, geht eine Säge auf und nieder, während eine ganz einfache Vorrichtung einen Stamm gegen die Säge drückt. Ein Schaufelrad, das vom Bache getrieben wird, leitet die doppelte Bewegung, sowohl die der Säge, die auf und nieder geht, wie die des Stammes, der sich der Säge langsam nähert und von ihr in Bretter zerteilt wird.
    Als sich Vater Sorel seiner Mühle näherte, rief er mit Stentorstimme: »Julian!« Es kam keine Antwort. Er sah niemanden als die Hünengestalten seiner älteren Söhne, die mit schweren Äxten die Fichtenstämme bearbeiteten, ehe diese unter die Säge gelangten. Sie verwandten ihr ganzes Augenmerk darauf, den auf das Holz gezogenen schwarzen Strich genau einzuhalten. Jeder Axtschlag spaltete mächtige Splitter ab.
    Die jungen Männer hörten den Ruf ihres Vaters nicht. Er wandte sich nach dem Schuppen und betrat ihn. Aber auf dem ihm zugeteilten Posten neben der Säge fand er den Gesuchten nicht. Er bemerkte ihn fünf oder sechs Fuß höher, im Reitsitz auf einem der Dachbalken. Anstatt den Gang des Sägewerks gewissenhaft zu überwachen, las er in einem Buche. Nichts war dem alten Sorel mehr zuwider. Die körperliche Schwäche, die seinen Jüngsten im Gegensatz zu den älteren Brüdern zu schwerer Arbeit untauglich machte, die hätte er ihm vielleicht nachgesehen, aber diese Lesewut haßte er. Er selber konnte nicht lesen.
    Umsonst rief er zwei-, dreimal: »Julian!« Das Buch, in das der Junge sich vertieft hatte, war mehr noch denn der Lärm der Säge schuld, daß er die furchtbare Stimme seines Vaters überhörte. Schließlich sprang der Alte trotz seines Alters behend auf den Stamm, der sich der Säge entgegenschob, und von da auf den Querbalken unter dem Dach. Durch einen heftigen Schlag seiner Faust flog dem Leser das Buch aus der Hand, weit weg in den Mühlgraben. Ein zweiter, ebenso heftiger Schlag traf ihn auf den Kopf. Der Mißhandelte verlor das Gleichgewicht. Er wäre die zwölf bis fünfzehn Fuß hinabgestürzt, gerade in die auf und nieder gehende Säge, von der er zerschnitten worden wäre, wenn ihn sein Vater nicht im Fall an der linken Hand gepackt hätte.
    »Siehst du, du Faulpelz! Liest immer wieder in deinen verfluchten Büchern, statt auf die Säge aufzupassen! Schmökre gefälligst abends, wo du deine Zeit beim Pfarrer vertrödelst!«
    Julian war durch den starken Schlag halb betäubt; auch blutete er. Trotzdem schickte er sich an, seinen Posten bei der Säge wieder aufzusuchen. Die Tränen standen ihm in den Augen, weniger wegen des körperlichen Schmerzes als darüber, daß sein geliebtes Buch dahin war.
    »Komm herunter, du Lümmel! Ich habe mit dir zu reden!« schrie der Alte; aber wiederum verschlang das Kreischen der Säge den Befehl.
    Vater Sorel war bereits hinabgesprungen. Um nicht nochmals hinaufklettern zu müssen, ergriff er eine lange Stange, die zum Nüsseabschlagen diente, und stieß seinen Sohn damit an die Schulter. Kaum war Julian ebenfalls unten, so trieb ihn der Alte unter rohen Stößen nach dem Wohnhause.
    »Gott weiß, was er mit mir vorhat!« dachte der junge Mensch und warf im Weglaufen einen wehen Blick nach dem Mühlgraben, in den sein Buch gefallen war, sein Lieblingsbuch: das Memorial von Sankt Helena 8 . Seine Wangen waren erglüht. Er sah zu Boden.
    Julian war ein Bursche von achtzehn oder neunzehn Jahren, schwächlich von Aussehen, mit unregelmäßigen, aber feinen Zügen und einer Adlernase. Seine großen schwarzen Augen, die im gewöhnlichen ruhigen Zustande versonnen leuchteten, blitzten jetzt voll von wildestem Haß. Sein kastanienbraunes, ziemlich tief angesetztes Haar ließ seine Stirn niedrig erscheinen und verlieh ihm im Moment des Zorns etwas Bösartiges. Unter den zahllosen Varianten des Menschenantlitzes ist keine eindringlicher als die zornig-böse. Seine schlanke, gutgewachsene Figur verriet mehr Gewandtheit denn Kraft. Er war von Kindheit an immer überaus grüblerisch und sehr blaß gewesen; daher hatte sein Vater geglaubt, er werde nicht lange leben oder, wenn er am Leben bliebe, seiner Familie nur eine Last sein. Von jedermann im Hause verachtet, haßte er seinerseits Vater und Brüder. An den Sonntagen, wenn die Jungen auf dem Markt spielten, bekam er immer Schläge. Erst seit einem Jahre begann ihm sein hübsches Gesicht Wohlwollen unter den jungen Mädchen zu verschaffen.
    Als Schwächling von aller Welt
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