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Rosenrot

Titel: Rosenrot
Autoren: Arne Dahl
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grässliches Wort.
    Fit.
    Slim.
    Als würde ein Schwachsinniger über Geschlechtsorgane reden.
    Was wahrscheinlich vollkommen korrekt war, wenn man die Herkunft der Wörter bedachte.
    In der Regel waren diejenigen, die slim und fit waren Schwachsinnige. Traurig, aber wahr, dachte sie voller hemmungsloser Vorurteile und legte eine Hand an ihre spielenden Schenkelmuskeln.
    Sie kreiselte die wie gewöhnlich nach Urin stinkende Treppe hinunter und unterquerte die Regeringsgata in Höhe der einst vielbeachteten Königstürme. Stockholms Zwillingstürme. Jetzt wusste kaum noch jemand, dass es sie gab. Reste eines Stadtplans aus den fünfziger Jahren. Die Kälte biss ein wenig an den Wangen. Über den Zwillingstürmen kam ihr der vollkommen klarblaue Sommerhimmel typisch schwedisch vor.
    Klar und kalt, abgewandt, doch wohlwollend; wohlwollend, doch abgewandt.
    Ein sozialdemokratischer Himmel eines abgelaufenen schwedischen Modells.
    Sie erreichte Sveavägen. Weil ihr Ampelmännchen grün war, zögerte sie keine Sekunde, in den Wahnsinnsverkehr hinauszustürmen und im Vorbeilaufen mit ihrem Ring leicht über die Fronthaube eines roten Porsche zu kratzen, der diagonal über drei Viertel des Fußgängerüberwegs stand, mit der Schnauze Richtung Yuppie-Reservat Stureplan. Während sie auf der Kungsgata weiterlief, wo gerade der bunte Flickenteppich der Marktstände von Hötorget zusammengenäht wurde, dachte sie, hauptsächlich um zu verdrängen, dass sie soeben ein teures Auto geritzt hatte: Was ist eigentlich aus Porsche geworden? Was ist mit der Automarke passiert, die mehr als irgendeine andere das sozial und menschlich indifferente Streben einer ganzen Generation symbolisiert hatte?
    Eigentlich war sie schon mitten in einem Gedankengang, in dem es um ein paar Tenöre ging, die vermutlich nie einsehen würden, dass sie schwul waren, doch jetzt hatte sich die Kombination Porsche/schlechtes Gewissen vorgedrängt.
    Die Porscheleute waren Pioniere gewesen. Die Avantgarde des nicht rückgängig zu machenden Geldumschwungs. Jetzt begegnete man ihrer Haltung überall. Jedermann führte sie im Mund.
    Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.
    Doch, so einfach war es. Vor knapp einem Jahr, im Zusammenhang mit dem Fall der merkwürdigen Rachebande, der die A-Gruppe den Namen ›Die Erinnyen‹ gegeben hatte, war Kerstin Holm in eine Sackgasse geraten. Sie war das Gefühl nicht mehr losgeworden, dass ihr eine Erneuerung Not tat, eine Form von Metamorphose.
    Wie konnte man der unerträglichen Leichtigkeit des Seins entkommen?
    Wie konnte man zur ursprünglichen Schwere und Kraft der Existenz zurückfinden?
    Wie konnte man zurückfinden zu allem, was einmal wesentlich, brennend und existentiell anrührend gewesen war?
    Es klang ein wenig trist, das musste sie zugeben – aber im Grunde machte es – Spaß. Das war der Clou. Ein Zauberstab von Gleichgültigkeit hatte das Dasein berührt. Alles war gleich dick, gleich grau – aber es gab einen Ausweg. Das war ihre feste Überzeugung. Und damals – irgendwann im vergangenen Jahr – glaubte sie tatsächlich, ihn gefunden zu haben.
    Den Ausweg.
    Doch dann rollte dieser schwierige Fall über sie hinweg wie eine Lawine und riss das alles mit sich. Der schmale Weg war wieder versperrt. Vielleicht hatte es ihn nie gegeben, vielleicht war er nur eine Halluzination, hervorgerufen von ihrem Willen.
    Gott?
    Na ja, das wäre wohl übertriebener Optimismus. Man konnte IHN ja nicht einfach durch die Kraft des Willens herbeizaubern. So funktionierte es nicht.
    Auf jeden Fall war es ihr erspart geblieben, sich mit den widersprüchlichen Thesen der Theologie konfrontiert zu sehen – dafür hatte eine Bande rachsüchtiger Ukrainerinnen gesorgt.
    Die Gedanken lebten ihr eigenes Leben, als liefen sie neben ihr die Kungsgata entlang, als hüpften sie in spielerischen Kreisen um ihre Beine, um mit ihren leichten Schritten zu zeigen, wie schwer ihre eigenen waren.
    Wahrscheinlich joggte sie deshalb. Sie ging mit ihren Gedanken Gassi wie andere mit ihrem Hund. Sie brauchte sich dabei nicht einmal zu bücken, um mit der über die Hand gestülpten Plastiktüte die Scheiße aufzuheben. Sie lief dem Gestank einfach davon. Und diese Erkenntnis machte die Schritte der Gedanken so schwer, dass sie ihnen davonlaufen konnte und zu sich selbst zurückkehrte.
    Ihre Schritte waren nicht mehr so schrecklich schwer. Das regelmäßige Laufen hatte seine Spuren hinterlassen. Sie war sich noch immer nicht darüber im
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