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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Autoren: Lars Gustafsson
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Allmächtigen vorschreiben, welcher Mittel er sich bedienen solle.
    Weiter wurde angedeutet, es gäbe auch eine dämonische Macht in der Welt, und ein wahrer Christ müsse stets mit seinem eigenen Gewissen ausmachen, welche Gebete mit dem Willen Gottes in Einklang stünden.
    Selbst wenn dieser Anbruch einer neuen Ära in der Geschichte ein Beweis für die Güte und Allmacht Gottes sei, dürfe die Bischofskonferenz es nicht versäumen, auf die neuen Versuchungen hinzuweisen, die dieser veränderte und gewiß nicht in alle Ewigkeit anhaltende Zustand der Dinge notwendigerweise für jeden guten Christen mit sich bringen müsse. In dieser von großen Umwälzungen geprägten Zeit sähe die Bischofskonferenz sich genötigt, die Gläubigen zu äußerster Enthaltsamkeit in ihren Gebeten zu ermahnen.
    Diese Worte waren in den Wind gesprochen.
    Die Menschheit hatte zum erstenmal in ihrer Geschichte eine ganz neue Art von Großzügigkeit kennengelernt, das grenzenlose Wohlwollen, die indolente, ja völlig nihilistische Liebe zu allem Erschaffenen, die nur das Wesen aufbringen kann, das es erschaffen hat.
    Man kann es auch anders ausdrücken:
    Die Menschheit, jahrtausendelang von der sonderbaren und unglücklichen Wahnvorstellung gequält, eine fordernde und nahezu bösartige Vaterfigur über sich zu haben, hatte innerhalb von wenigen Tagen ihren Irrtum erkannt.
    Statt dessen gab es eine Mutter.
    Während das Dasein sich mit jedem Augenblick immer schneller von jeder sprachlichen Beschreibung entfernte und sich auf ein Reich zubewegte, für das es keine Worte gab, begann das sterben der sprache.
    Eines der letzten Sprachfragmente enthielt die Botschaft:
    WENN GOTT LEBT, IST ALLES ERLAUBT
    (Das blaue Buch V:1)

 
 
 
    6
    Memoiren aus dem Paradies

 
     
     
    Birkenwald. Sumpfland. Die allerersten Anzeichen dafür, daß die Bäume sich belauben werden. Wie schrecklich schnell der Winter vergangen ist! Ich bin gar nicht so sicher, ob ich den Frühling überhaupt schon will. Ich bin noch nicht bereit dafür. Die Einsamkeit wächst in mir wie Kompost. Die seltsamsten Pflanzen sprießen daraus hervor. Zweifel.
    Und jeden Morgen die gleiche Angst, daß diese Schmerzen wiederkommen werden. Den ganzen Winter über habe ich Schmerzen gehabt. Jetzt leide ich genausosehr unter der Angst vor dem Schmerz. Ich beobachte mich selbst genau: Ob ich schwächer geworden bin, ob das Laufen mich mehr anstrengt, ob der Gang zum Kaufmann mich mehr ermüdet als zuvor. Ich lasse den Wagen stehen, weniger um Benzin zu sparen, als um mich selbst auf die Probe zu stellen. Das bedeutet, daß ich einen ganzen Vormittag verliere, aber ich weiß nicht so genau, was ich sonst mit dieser Zeit angefangen hätte.
    Der Mensch, diese sonderbare Kreatur, zwischen animalischem Dasein und Hoffnung schwebend.
     
    Ich weiß tatsächlich nicht mehr über den Sinn des Universums, nicht mehr darüber, was all das bezweckt: die Moleküle, die Molekularketten, das Bewußtsein, Sonette und Sestinen, die unterirdischen, mit Atomwaffen beladenen Raketen, die Fresken des Michelangelo, das Binominaltheorem und Monteverdis Madrigale, über den Zweck all dessen weiß ich nicht mehr, als jeder bemooste alte Stein hinter den Bienenstöcken im Garten weiß. Als eine Mücke weiß. Als eine Amöbe in einer stagnierenden Pfütze weiß.
     
    Die Geschichte der Menschheit ist noch nicht weit fortgeschritten. Tatsächlich ist sie noch in ihren Anfängen.
     
    Die Angst davor, verrückt zu werden, ist im Grunde die Angst davor, ein anderer zu werden:
    aber das werden wir doch immerzu.
     
    Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.
    (Nietzsche)
     
    Sumpfland. Birken. Huflattich blüht am Grabenrand. Die meisten der Bienenstöcke sind wieder zum Leben erwacht. Mein Freund Nicke zum Beispiel, der von einem Lastwagen überfahren wurde, als er an einem Septembertag 1952 in der Frühstückspause nach Hause radeln wollte. Ich denke oft an ihn, wenn ich etwas Ungewöhnliches sehe, etwas, das mich wirklich interessiert. Dann frage ich mich, was Nicke dazu gesagt hätte. »Jetzt sehe ich das an deiner Stelle, Nicke.« Es ist ein ungeheuer starkes Erlebnis. Man ist irgendwie identisch mit den Menschen, die man gekannt hat.
    Die fünfziger Jahre. Was fällt mir dazu ein? Kleine blaue Straßenbahnen fuhren durch Stockholm. Herbert Tingsten redete im Fernsehen. Die Volksabstimmung über die Zusatzrente, mit der ich mich nie besonders beschäftigt habe. Die Volksabstimmung über Links- oder
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