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Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Titel: Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Autoren: Hollow Skai
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Steine, engagiert hatte, um in den Genuss von Steuererleichterungen zu kommen, und keine weitere Band, fragte er zurück: »Wie viele seid ihr denn?« Als ihm die korrekte Zahl, 28, genannt wurde, wäre er am liebsten auf Nimmerwiedersehen im Boden versunken.
    Ton Steine Scherben waren im Laufe des Jahres aus Hoffmanns Comic Teater und einer Abspaltung namens Rote Steine hervorgegangen. Anfang August hatten sie in Drafi Deutschers altem Beatclub , einem Ballsaal am Kottbusser Damm 76, der Krautrock-Bands wie Tangerine Dream, Karthago und Curly Curve als Probenraum diente, drei Songs aufgenommen, von denen sie zwei nach dem Festival der Liebe auf eine Single pressten: Macht kaputt, was euch kaputt macht und Wir streiken . Das Cover hatte Blalla Hallmann gemalt, der »in San Francisco zum Kreis von Robert Crumb gehört« hatte. Die »detailreich gezeichnete Massenorgie – seine Vorstellung vom Paradies« wurde allerdings im letzten Augenblick durch ein weniger verfängliches Cover ausgetauscht, um die linken Buchläden nicht zu verschrecken.
    Vorfinanziert wurde die erste unabhängig produzierte Schallplatte der Bundesrepublik Deutschland von Gert Möbius, der zu der Zeit ein gutes Auskommen als Raubdrucker hatte und das Cover auf einer Rotaprint druckte, die einst der Kommune I gehört hatte, auf der nun aber Schriften von Wilhelm Reich und Anna Freud vervielfältigt wurden. Gert nutzte die subversiven Vertriebskanäle, um die Single an den Fan zu bringen – bis Weihnachten 1970 waren bereits einige Tausend verkauft. Und er stellte auch den Kontakt zu Michael Böhme her, einem Genossen der PL/PI, der bei der Fernsehdokumentation Fünf Finger sind eine Faust Co-Regie führte und dafür auch die Scherben filmte. Nachdem die Doku ausgestrahlt worden war, erkundigten sich mehr als tausend Zuschauer beim Sender, wo man denn eine Schallplatte der Scherben bekommen könne.
    Die Gruppe war über Nacht zur Kultband geworden, und ihr Name wurde schon bald zum Synonym für Randale, Hausbesetzungen und Straßenkampf. Zu Clemens Kubys Film Lehrlinge , einem Doku-Drama um einen Azubi, der Ärger mit seinem autoritären Vater bekommt, als ihn seine Freundin besuchen will, steuerten sie die Titelmelodie bei; und ganz kurz sind sie darin auch zu sehen – als Teilnehmer einer Diskussion im Berliner Lehrlingszentrum.
    In einem WDR-Interview betonte Rio 1971, dass sie sich in erster Linie an Lehrlinge richteten, »an Leute in unserem Alter und jünger, zwischen 15 und 22, weniger an Schüler und nicht an die bereits Agitierten«. Auf die Parolenhaftigkeit der Scherben-Texte angesprochen, bestritt er, »dass man nur mit ganz primitiven Sätzen den Lehrlingen was klar machen« könne, verteidigte sie aber zugleich vehement: »Es sind Sätze, Schlagworte, die agitieren können.« In bestimmten Situationen würde man erkennen, was damit gemeint sei.
    Ihr AgitPop richtete sich allerdings nicht nur an proletarische Jugendliche, die als Lehrlinge schamlos ausgebeutet wurden, sondern auch an die, »die es erst gar nicht in diese Mühle geschafft hatten, und auch nicht in das dazugehörende Volk«, wie Wolfgang Seidel, der im Oktober 1971 den Schlagzeughocker für Sven Jordan räumen musste, im August 2003 in der Tageszeitung Junge Welt zu Recht feststellte. Die Scherben machten auch, wenn nicht sogar in erster Linie, Musik für »Jugendliche, Trebegänger, Gammler, Drogensüchtige und Ausgeflippte«, also für alle so genannten Randgruppen, »auf die eine Mehrheit des Volkes herabschaute«.
    Bei ihren Auftritten hing fortan ein Spruchband mit der von Georg Büchner geprägten zentralen Parole der bürgerlichen Revolution von 1848 über der Bühne – »Friede den Hütten, Krieg den Palästen«; zwischen den Songs zitierten sie Worte des Vorsitzenden Mao. Am 1. Mai spielten sie auf einem LKW, der den Kreuzberger Demonstrationszug begleitete, woraufhin der spätere Nena-Manager Jim Rakete sie für Springers B.Z. fotografierte – es ist das älteste Foto, das von den Scherben existiert (und ziert das Back-Cover der Scherben-LP Warum geht es mir so dreckig? ). Albrecht Metzger nahm mit ihnen ein paar Songs für Jour fix auf, ein damals extrem progressives Jugendmagazin der ARD. Weitere Aufnahmen entstanden auf einem Benefiz-Fest für die Gefangenen-Hilfsorganisation Rote Hilfe, das der Schriftsteller und Haschrebell Peter Paul Zahl organisiert hatte – anschließend wurde eine leer stehende Fabrik am Mariannenplatz besetzt, ohne dass das
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