Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Riedripp: Kriminalroman (German Edition)

Riedripp: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Riedripp: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Michael Boenke
Vom Netzwerk:
durch und zog sich behänd am Holzgeländer nach oben, um das Knarren der alten Stufen zu vermeiden. Von der steil ansteigenden Treppe aus konnte sie über den Schopf in den Hof hineinsehen. Durch den nachlässig geschlossenen Vorhang des gegenüber liegenden Wohnzimmers störte sie das hysterische, helle Blitzen eines laufenden Fernsehgerätes. Schnell nahm sie, fast geräuschlos die letzten Stufen. Mit sanftem Druck öffnete sie die Tür zur Gesindekammer.
    Die Person war nicht das erste Mal hier. Sie kannte sich bestens aus. Ein paar notwendige Dinge hatte sie schon seit Längerem liegen, eine raue Decke und eine ausgefranste Zahnbürste. In der nahen Stadt hatte sie feuchte Tücher mitgehen lassen, da sie sich nicht traute, den Wasserhahn des Waschbeckens zu bedienen, wegen der Fließgeräusche im Rohr. Sie legte ein paar Äpfel, Cox Orange, die sie aus einer der das Ried säumenden Obstwiesen mitgenommen hatte, auf das alte Nachttischchen. Fröstelnd schloss sie die Arme um den Oberkörper. Trotzdem war es hier in den langen Nächten wärmer, viel wärmer als im Ried. Sie lehnte sich an die Wand, hier war es sogar ein bisschen behaglich, hinter der Wand lief der Kamin der holzbefeuerten Waschküchenheizung. Sie ging vorsichtig zum kleinen Fenster, das sie immer wieder im linken, unteren Eck blank rieb, um einen besseren Einblick in das Hofgeschehen zu haben. Das bläulich zuckende Licht, das der Fernsehapparat gespenstisch durch das Wohnzimmerfenster über den dunklen, leicht benebelten Hof schickte, schien das einzig Lebendige zu sein.
    Ihn hatte sie heute schon ein paar Mal gesehen, heute Morgen, als sie im Nebel hinter der Hecke stand. Er schien jedoch nicht verstanden zu haben, was das alles zu bedeuten hatte. Und zur Mittagszeit war richtig viel los auf dem ansonsten ruhigen Hof. Vom Fenster der Gesindekammer aus hatte sie mit trommelndem Herzen die eigenartige Szenerie beobachtet. Als der Motorradfahrer alles fotografiert hatte und die Kommissarin mit ihrem Begleiter wieder verschwunden war, nutzte sie eine ruhige Minute, um vor dem großen Ansturm der Spurensicherung in Richtung Ried zu verschwinden.
    Nun legte sie sich in das alte Kirschholzbett und zog die Decke bis zum Kinn. Obwohl die alten dreiteiligen Matratzen feucht waren und diese Unterkunft immer wieder ein gewisses Risiko darstellte, vor allem jetzt, da häufiger Polizeibesuch zu erwarten war, lächelte sie und freute sich auf einen guten Schlaf. Das Messer in der engen Hosentasche störte sie. Sie nahm es heraus, löste die Klinge mit einem Druck auf den hinteren Teil des Griffes und fuhr mit dem Daumen über den hauchdünnen Grat des Eisens, um die Schärfe zu prüfen. Ihre Pupillen waren weit geöffnet. Sie zitterte, dann wurde ihr übel. Sie legte das Messer schnell auf das Nachttischchen. Sie war gern hier. Sie holte das alte, gefaltete Blatt Papier mit der Zeichnung aus ihrem Geldbeutel und betrachtete es eingehend.
    Sie lächelte, wie man lächelt, wenn einem gesagt wird, ich mag dich schon, aaaber … und leise hauchte sie in den dunklen Raum:
    »Ripp.«

7 Gesichtsentgleisung
    Das Buch der Sprichwörter
    1:8 Höre, mein Sohn, auf die Mahnung des Vaters, und die Lehre deiner Mutter verwirf nicht!
    1:9 Sie sind ein schöner Kranz auf deinem Haupt und eine Kette für deinen Hals.
     
    Paul-Josef Hallinger war der dicke Sohn des dicken Bürgermeisters von Riedhagen. Im 800-Seelen-Ort Riedhagen hatte Paul-Josef wenig Gleichaltrige zum Spielen, und so spielte der Sechsjährige oft allein. An diesem Tag tat er etwas, was ihn ein bisschen nervös machte. Seine speckigen Händchen hatten mit einem stumpfen Messer einen Haselnussstecken so lange bearbeitet, bis er mit einer Schnur daraus einen Bogen formen konnte. Zufrieden schaute er sein Ergebnis an. Jetzt benötigte er nur noch einen Pfeil. Aus dem Röhricht schnitt er vorsichtig einen kräftigen Rohrkolben heraus. Das dunkelbraune, samtige, zigarrenartige, obere Ende des Gewächses schlug er auf den Boden und freute sich. Tausende von winzigen Flugsamenschirmchen stiegen kurz in den herbstblauen Himmel auf, um dann irgendwann im Ried zu landen. Nervös war er vor allem, weil seine Mama ihm verboten hatte, ins Ried zu gehen.
    Da holt dichs Riedweible, war ihm noch allzu deutlich im Ohr. Aber von den Älteren hatte er gehört, dass es das gar nicht gibt, und trotzdem … Auch der Vater hatte oft den Zeigefinger erhoben und sich groß vor ihn hingestellt:
    »Da hast du nichts verloren im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher