Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Autoren: Dieter Borchmeyer
Vom Netzwerk:
Selbststilisierungen zweifeln kann und muss: dass er erst über die Poesie zur Musik gelangte, diese für ihn von Beginn an einen literarischen Motivationshintergrund hatte, ist nicht zu leugnen. Erst 1830, zwei Jahre nachdem er sein Trauerspiel Leubald abgeschlossen hatte, unternahm er seinen ersten Opernversuch: eine von ihm so genannte »Schäferoper« (WWV 6) nach dem Vorbild von Goethes Schäferspiel Die Laune des Verliebten (1768). Von dem schnell wieder aufgegebenen Plan ist indessen kein Wort und Ton erhalten. Längeren Atem bewies Wagner freilich bei seinem zweiten Opernversuch Die Hochzeit (WWV 31), der in Goethes Todesjahr 1832 fällt. Das Libretto wurde sogar abgeschlossen und die Komposition begonnen. Anders als die Partitur der vertonten Teile vernichtete Wagner das Textbuch jedoch, weil es seiner Lieblingsschwester Rosalie gründlich miss fi el. Rosalie, die ja als Schauspielerin am Königlich Sächsischen Hoftheater in Leipzig wirkte und die Familie materiell mit über Wasser hielt, hatte beträchtlichen Ein fl uss auf den jüngeren Bruder, wie die verschollene Ouvertüre zur Braut von Messina und die Faust- Kompositionen (1830/31) zeigen, zumal Wagner sich ihre Protektion bei seinen ersten Schritten als Theaterkomponist versprach. Rosalie war zweifellos die wichtigste familiäre Bezugsperson Wagners. Ihr Tod am 12. Oktober 1837 war der schwerste Schicksalsschlag seiner frühen Lebensjahre.
    In Mein Leben hat Wagner den Inhalt des vernichteten Librettos der Hochzeit ausführlich nacherzählt und als seine Quelle die 1823 in Leipzig erschienenen »Vorlesungen« Ritterzeit und Ritterwesen von Johann Gustav Gottlieb Büsching ausgegeben (ML 75). Dieses Buch, das eine Fülle epischer Sto ff e des Mittelalters rhapsodisch ausbreitet – es be fi ndet sich auch in der »Wahnfried«-Bibliothek –, hat Wagners Phantasie ungemein be fl ügelt und bot ihm die ersten Anregungen zu seinen Mittelalter-Opern bis hin zum Parsifal . In seiner Autobiographischen Skizze von 1843 gibt er die Handlung der Hochzeit in folgenden Sätzen knapp wieder: »Ein wahnsinnig Liebender ersteigt das Fenster zum Schlafgemach der Braut seines Freundes, worin diese der Ankunft des Bräutigams harrt; die Braut ringt mit dem Rasenden und stürzt ihn in den Hof hinab, wo er zerschmettert seinen Geist aufgiebt. Bei der Todtenfeier sinkt die Braut mit einem Schrei entseelt über die Leiche hin.« (GS I, 8 f.)
    Die Quelle dieser Handlung, die Wagner sogar zu einer modernen Novelle à la E. T. A. Ho ff mann auszuformen plante – immer muss es der Poet sein, der dem Musiker den Weg weist –, ist die Verserzählung (»maere«) von der »vrowen triwe« ( Frauentreue ), die ein anonymer mitteldeutscher Dichter des späten 13. Jahrhunderts verfasst hat. Der junge Wagner kannte sie freilich nur aus der Nacherzählung von Büsching, hat sie erst 1873 im Original kennengelernt – und mit Bewunderung und Rührung zusammen mit Cosima gelesen (CT I, 676). Ja, acht Jahre später liest er sie ihr noch einmal vor und schlägt eine Brücke zu seinem Tristan (CT II, 810), was uns nicht weiter verwundern kann, ist die sto ff lich ungewöhnliche Erzählung doch dicht von Motiven durchzogen, die auch das ganze dramatische Werk Wagners prägen.
    Kurz die Handlung des »maere«: Ein Ritter kommt auf seiner Aventürensuche in eine Stadt und fragt einen ihm bekannten Bürger nach der schönsten Frau dortselbst. Der Bürger verweist ihn auf die Frauenschau beim bevorstehenden Kirchweihtag. Und da nun entdeckt der Ritter eine Frau, die ihn ganz und gar der Sinne beraubt – doch es ist die Frau des befreundeten Bürgers selber: »si kam im zuo der selben stunt / mitten in sînes herzen grunt, / darûz si nimmer mêr geschiet, / biz der tôt ez verschriet.« Einerseits: der Ritter, der in eine Stadt kommt, einem Bürger bekannt ist und sich beim Kirchgang verliebt, anderseits die Geliebte als Ehefrau des Freundes: Die Meistersinger und Tristan verschränken sich da gewissermaßen schon . Bald bemerkt die Frau des Bürgers die Minneverfallenheit des Ritters und geht auf Distanz zu ihm. Um der geliebten Frau willen ruft nun der Ritter ein Turnier aus. Beim Kampf mit einem anderen Ritter bleibt dessen Speerspitze in seiner Seite stecken. Sie aber will er sich nur von der Geliebten herausziehen lassen. Die Heilung durch die Geliebte, die wir aus der Exposition des Tristan kennen! Die anfänglich sich weigernde Frau, welche den erotischen Grund der Heilungsbitte sehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher