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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
Autoren: Heinrich Steinfest
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sagte die Schwester und wirkte nun auf eine dezente Weise vergnügt.
    In diesem Moment betrat eine Frau mit dem Rücken voran das Lokal. Zwei Männer, die an der Theke standen, beeilten sich, ihr die Tür aufzuhalten, da sie einen Kinderwagen ins Innere schob und damit eine Kehre vollzog.
    Die beiden Männer begaben sich unbedankt, doch nicht minder zufrieden zurück zu ihren Gläsern gespritzten Weißweins, welche auf dem Ausschank thronten. Ein Relikt des Sommers, der gespritzte Wein, gleich altem Porzellan. Es gab Leute, für die der Sommer einfach nicht aufhörte, da hätten ganze Eisbären vom Himmel fallen können.
    Es war dieselbe Frau mit Kinderwagen, die Lukastik gesehen hatte, als er vor Monaten das letzte Mal im Sittl gewesen war und eine telephonische Merkwürdigkeit ihn dazu veranlaßt hatte, nach Zwettl aufzubrechen. Wo er dann seine Kollegen Jordan und Boehm aus ihrer mißlichen Lage hatte befreien dürfen, um in der Folge seinerseits in eine weit mißlichere Lage zu geraten. Daß ausgerechnet Jordan zu seinem Lebensretter avanciert war, hatte Lukastik schwer getroffen und seinem Überlebthaben eine bittere Note verliehen. Ganz nach dem Motto, daß ein Mensch mit Charakter sich nicht von jedermann aus der Bredouille helfen ließ.
    Was man sich freilich nicht immer aussuchen kann. Ganze Völker werden von anderen Völkern gerettet, ohne die Möglichkeit eines Einspruchs. Worauf im allgemeinen kaum geachtet wird. Die Rede ist immer nur von Mord und Totschlag und Unterdrückung, selten aber davon, wer alles ungefragt und ungewollt seine Rettung zu erdulden hat.
    Daß umgekehrt er, Lukastik, Jordan aus einem verdreckten Verlies befreit hatte, war kein wirklicher Trost. Jordans lebensrettende Tat wog weit schwerer, bedeutete eine Schuld, die Lukastik niemals würde ausgleichen können. Jordan hatte sich einen Vorteil erschwindelt, der sich eignete, ewig zu halten. Jordan war der Retter, Lukastik der Gerettete. Das war das Manko, an das Lukastik durch den Auftritt dieser Frau samt ihrem orangefarbenen Kinderwagen nun erinnert wurde.
    Auch diesmal nahm sie an dem Tisch nahe der Essensausgabe Platz. Gut möglich, daß sie im Unterschied zum rekonvaleszenten Lukastik in letzter Zeit mehrmals hier gesessen hatte. Von dem Kind war freilich noch immer nichts zu sehen, es schien in seiner Kinderwagenhöhle wie eingefroren. Na ja, vielleicht auch geborgen. Jedenfalls war kein Ton zu vernehmen. Auch die Frau gab sich unverändert, warf einen überheblichen Blick in die Leere, als fechte sie mit dieser Leere einen Zivilprozeß aus. Und natürlich rauchte sie.
    Auch wenn Lukastik in einigen Metern Entfernung saß, kam es ihm vor, die Frau blase ihm den Rauch ins Gesicht. Fast wollte er etwas sagen. Daß sie gefälligst aufhören solle, die Luft zu verpesten. Etwas in dieser Preisklasse.
    »Kennst du die Frau?« fragte die Schwester, die seinem Blick gefolgt war.
    »Wie?« stammelte Lukastik. Und, als sei er eben erwacht: »Nein. Gar nicht.«
    Er griff in seine Jackettasche und kramte jenes kleine rote Büchlein hervor, das sich nun wieder in einem kompletten Zustand befand. Denn Jordan hatte ja nicht nur die Unverschämtheit besessen, Lukastik das Leben zu retten, sondern war auch noch so rücksichtsvoll gewesen, jene gefaltete Seite aus dem Tractatus aufzubewahren und sie im Zuge eines Krankenhausbesuches Lukastik mit einer beiläufigen Geste zu überreichen. Gewissermaßen um die Demütigung auf die Spitze zu treiben. Doch bei allem Ärger, den Lukastik empfunden hatte, war er auch überglücklich gewesen, das herausgerissene Blatt zurückbekommen zu haben, um es in fürsorglichster Weise dem Buch wieder einzuverleiben. Auf daß der Kosmos wieder in alter Vollständigkeit erblühte.
    Lukastik legte den schmalen Band neben sich auf den Tisch, betrachtete eine Weile den abgegriffenen Umschlag, plazierte sodann seine Hand auf der roten Fläche und wurde ungemein ruhig. Um ihn herum ergab sich eine Stille, in der bloß die Wörter und Sätze aus dem Tractatus ein wenig knisterten. Und das, obgleich er beobachten konnte, wie sich der Mund seiner Schwester bewegte.
    Lukastik lächelte. Der Putzerfisch in seinem Kopf trieb gemächlich dahin.
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